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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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genauso gut diesen Dienst leisten«, sagte Jacquemort.
    Er fühlte eine Art Unruhe, hatte den Eindruck, mit einem Wesen von einem anderen Stern zu sprechen. Ein hinlänglich bekanntes Gefühl, sicherlich.
    »Ich muß diese Dinge aber mit meinen Zähnen wieder herausfischen«, sagte der Mann. »Die toten oder die verwesten Dinge. Deshalb wirft man sie ja hinein. Häufig lässt man sie absichtlich verfaulen, um sie hineinwerfen zu können. Und ich muß sie mit meinen Zähnen herausholen. Damit sie zwischen meinen Zähnen endgültig verkommen. Damit sie mir das Gesicht besudeln.«
    »Bezahlt man Sie denn dafür?«, fragte Jacquemort.
    »Man stellt mir dieses Boot«, sagte der Mann, »und man bezahlt mich mit Schande und mit Gold.«
    Beim Wort »Schande« machte Jacquemort eine zurückweichende Bewegung, worüber er sich insgeheim ärgerte.
    »Ich habe ein Haus«, sagte der Mann, der Jacquemorts Geste bemerkt hatte, und lächelte. »Man gibt mir zu essen. Man gibt mir Gold. Viel Gold sogar. Ich habe jedoch nicht das Recht, es auszugeben. Niemand will mir etwas verkaufen. Ich habe ein Haus und einen Haufen Gold, und dafür muß ich die Schande des gesamten Dorfes verdauen. Sie bezahlen mich dafür, dass ich an ihrer Stelle ein schlechtes Gewissen habe. Für alles, was sie Böses oder Gottloses tun. Für alle ihre Laster. Für alle ihre Verbrechen. Ihren Alteleutemarkt. Die Tierquälerei. Die Lehrlinge. Und den ganzen Abfall.«
    Er hielt einen Augenblick inne.
    »Aber das alles kann Sie ja gar nicht interessieren«, fing er wieder an. »Sie haben doch wohl nicht die Absicht hierzubleiben?«
    Es gab ein langes Schweigen.
    »Doch«, sagte Jacquemort schließlich. »Ich will hierbleiben.«
    »Dann werden Sie sein wie die anderen«, sagte der Mann. »Auch Sie werden Ihr reines Gewissen ausleben und die Last Ihrer Schande auf mich abwälzen. Auch Sie werden mir Gold geben. Aber Sie werden mir nichts für mein Gold verkaufen.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte Jacquemort.
    »La Gloïre«, sagte der Mann. »Man nennt mich La Gloïre. Das ist der Name meines Bootes. Ich selber habe keinen mehr.«
    »Ich werde Sie Wiedersehen«, sagte Jacquemort.
    »Sie werden sein wie die ändern«, sagte der Mann. »Sie werden nicht mehr mit mir sprechen. Sie werden mich bezahlen. Und mir Ihr Verwestes zuwerfen. Und Ihre Schande.«
    »Aber warum machen Sie das alles?«, fragte Jacquemort.
    Der Mann zuckte die Achseln.
    »Vor mir hat es einen anderen gegeben«, sagte er.
    »Wie kommt es, dass Sie ihn ersetzt haben?«, fragte Jacquemort hartnäckig weiter.
    »Der erste, der mehr Schamgefühl hat als ich, kriegt meine Stelle«, sagte der Mann. »Sie haben es in diesem Dorf immer so gehalten. Sie sind sehr gläubig. Sie haben Ihr eigenes Gewissen. Und niemals Gewissensbisse. Aber wenn einer einmal schwach wird ... wenn einer sich auflehnt ...«
    »Den verfrachtet man auf die La Gloïre ...«, ergänzte Jacquemort. »Und Sie sind ein Empörer.«
    »Oh! Das kommt nicht mehr oft vor ...«, sagte der Mann. »Kann sein, dass ich der letzte bin. Meine Mutter war nicht von hier.«
    Er setzte sich wieder auf seinen Platz und beugte sich über die Ruder.
    »Ich muß wieder an meine Arbeit«, sagte er. »Auf Wiedersehen!«
    »Auf Wiedersehen«, sagte Jacquemort.
    Er sah ihm nach, wie er langsam auf der seidenschimmernden roten Wasserhaut davon glitt, und nahm seinen Weg wieder auf. Die Kirche, ein Hühnerei in einem Nest, war nicht mehr fern. Kaum angelangt, stieg er schnell die sieben Stufen hoch und trat ein. Bevor er mit dem Pfarrer sprach, wollte er noch einen Blick ins Innere der Kirche tun.

16
    Ein verworrenes Verstrebungswerk aus Querbalken und langen Trägern stützte das schwarzschieferne Kuppeldach des eiförmigen Kirchenschiffes ab. Vor Jacquemort ragte, aus dunklem Granit gefertigt, der Altar mit seinen grünen Kultgegenständen auf. Rechts zwischen zwei Balken schimmerte undeutlich die hohe weiße Silhouette der neuen Kanzel mit ihren offenen Klapptürchen hindurch.
    Es war das erste Mal, dass Jacquemort eine Kirche in so ausgefallener Bauweise sah, in der Form eines Eis, ohne steinerne Säulen, ohne Bögen, ohne Deckenbalken, ohne Querschiff mit Spitzbögen, ohne Sang und Klang und ohne Rücksicht auf die Zukunft erbaut. Die absonderlich eingepassten Holzteile schmiegten sich schlangengleich an die wuchtigen Mauern, deren Verkleidung sie dadurch bildeten. Die Hauptbalken waren überladen mit eingeschnitzten Tiefreliefs, deren Vielfarbigkeit er nur

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