Der Herzausreißer
ahnen konnte, und die Augen der Heiligen, Schlangen und Dämonen glosten in der Düsternis. Der Raum im Inneren des Kirchenschiffs war gänzlich frei. Ein ovales Kirchenfenster über dem Altar tauchte diesen in ein alles überlagerndes Ultramarinblau. Ohne besagtes Fenster wäre es in der Kirche stockfinster gewesen. Zu beiden Seiten des Altars warfen zwei vielarmige Leuchter zitternde Flammen, die sich mit ihrem milden Schleierlicht in das dämmrige Dunkel fraßen.
Eine dichte Strohschicht bedeckte den Boden vom Eingang bis zum Altar. Jacquemort nahm diesen Weg. Sowie sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, gewahrte er das graue Rechteck einer offenen Tür rechts hinter dem Altar und ging darauf zu in der Annahme, zur Sakristei oder zum Pfarrhaus zu gelangen.
Er ging durch die Tür und drang in einen kleinen, länglichen, mit Schränken und Gegenständen aller Art überfüllten Raum vor. Am anderen Ende eine weitere Tür. Dahinter Stimmengemurmel. Jacquemort klopfte dreimal mit den Fingerknöcheln an die hölzerne Wandtäfelung.
»Darf man eintreten?«, fragte er halblaut.
Das Gespräch verstummte.
»Herein!«, hörte Jacquemort sagen.
Er kam der Aufforderung nach und trat durch die zweite Tür.
Der Pfarrer war zugegen und eben im Gespräch mit dem Küster. Sie erhoben sich, als sie Jacquemort erblickten.
»Guten Tag«, sagte jener. »Der Herr Pfarrer, wenn ich mich nicht irre?«
»Guten Tag, Monsieur«, sagte der Pfarrer.
Er war ein knorriger Mann mit einem Gesicht, aus dessen tiefen Augenhöhlen zwei schwarze, von gleichfalls schwarzen dichten Brauen überwucherte Augen funkelten. Er hatte lange und trockene Hände, die er beim Reden gekreuzt hielt. Als er aufstand und sich anderswo hinsetzte, stellte Jacquemort bei ihm ein leichtes Hinken fest.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte Jacquemort.
»Reden Sie ...«, antwortete der Pfarrer.
»Es geht um eine Taufe«, erklärte Jacquemort. »Wäre es Ihnen am Sonntag recht?«
»Das ist mein Beruf«, sagte der Pfarrer. »Jedem das Seine.«
»Im Haus am Steilhang sind Drillinge zur Welt gekommen«, sagte Jacquemort. »Joël, Noël und Citroën. Es wäre gut, wenn alles bis Sonntagabend vorüber wäre.«
»Kommen Sie am Sonntag zur Messe«, sagte der Pfarrer. »Dann sage ich Ihnen den genauen Zeitpunkt.«
»Aber ich gehe doch nie zur Messe ...«, protestierte Jacquemort.
»Ein Grund mehr«, sagte der Pfarrer. »Das wird Sie zerstreuen. Wenigstens wird es einen geben, dem das, was ich sage, neu vorkommt.«
»Ich bin gegen die Religion«, sagte Jacquemort. »Wobei ich nicht außer Acht lasse, dass sie auf dem Lande in gewisser Weise nützlich sein kann.«
Der Pfarrer lachte höhnisch auf.
»Nützlich! ... Religion ist glatter Luxus«, rief er aus. »Diese dummdreisten Idioten sind es, die aus ihr gern etwas Nützliches herausholen möchten.«
Er reckte sich stolz in die Höhe und begann, den Raum mit erregten und hinkenden Schritten zu durchmessen.
»Doch ich verweigere mich«, sagte er mit schneidendem Ton. »Meine Religion wird auch ein Luxus bleiben!«
»Das ist es ja gerade, was ich hervorheben wollte«, erklärte Jacquemort. »Auf dem Lande nämlich hat der Pfarrer mächtig was zu sagen. Die grobschlächtigen Gemüter der Bauern lenken, sie auf ihre Fehler hinweisen, ihnen die Augen vor der Gefahr eines allzu irdischen Lebenswandels öffnen, den bösen Instinkten einen Riegel vorschieben ... Ich weiß nicht, ob Sie über eine gewisse Sache unterrichtet sind, die sich in diesem Dorf abspielt ... Ich ... äh ... ich hin gerade angekommen und möchte mich keinesfalls hier als Richter aufspielen, noch Sie durch meine Reaktion gegenüber einer Sache schockieren, die Ihnen zweifellos von jeher ganz natürlich vorkommt, ... nun äh ja ... so brandmarkt zum Beispiel ein Pfarrer von seiner Kanzel herab den Diebstahl und verdammt allzu frühen geschlechtlichen Umgang zwischen jungen Leuten, um zu vermeiden, dass Unordnung und Lasterhaftigkeit in seinem Distrikt Einzug halten.«
»In seiner Pfarrei ...«, berichtigte der Küster.
»In seiner Pfarrei ...«, sagte Jacquemort. »Wo war ich stehengeblieben?«
»Ich weiß es nicht«, warf der Pfarrer scharf ein.
»Nun ja«, sagte Jacquemort, sich aufraffend. »Dieser Alteleutemarkt. Das ist doch heller Wahnsinn!«
»Sie leben im 20. Jahrhundert!«, rief der Pfarrer aus. »Dieser Alteleutemarkt, na und? Ich schere mich keinen Deut um diesen Alteleutemarkt, Monsieur! Diese Leute machen viel mit,
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