Der Herzausreißer
sie. »Und bedenken Sie außerdem, dass ich mich ja ganz grün dabei mache, wenn wir uns da hinlegen ...«
»Stellen Sie sich auf alle Viere«, sagte Jacquemort.
»Selbstverständlich«, sagte sie, da sie einsah, dass dies die einzig mögliche Art war.
Während der Psychiater es ihr tüchtig besorgte, sah er den kurzen Hals des Mädchens sich erst aufrichten und dann entspannen. Da sie schlecht frisiert war, flatterten einige blonde Haarsträhnen frei im Wind. Sie roch streng, aber Jacquemort hatte es seit seiner Ankunft im Haus nicht getrieben, und dieser etwas tierische Geruch missfiel ihm keineswegs. Aus einer gut verständlichen Regung der Menschlichkeit heraus vermied er es, ihr ein Kind zu machen.
Sie gelangten kaum zehn Minuten nach Beginn der Messe zur Kirche. Das eiförmige Kirchenschiff musste, der Menge der Wagen und Karren nach, voll Menschen sein. Ehe Jacquemort die Stufen, hinaufstieg, sah er das noch etwas schamrote Mädchen an.
»Soll ich heute Abend kommen?«, hauchte sie.
»Ja«, sagte er, »dann wirst du mir dein Leben erzählen.«
Sie musterte ihn erstaunt, stellte fest, dass er nicht scherzte und schwieg, ohne zu begreifen. Sie traten ein und mischten sich unter die aufgeputzte Menge, die es eilig hatte. Dabei wurde Jacquemort an sie gedrückt, und ihr animalischer Duft stieg ihm in die Nüstern. Unter den Achselhöhlen hatte sie runde Schweißflecken.
Der Pfarrer war gerade mit dem Introitus fertig und schickte sich an, die Kanzel zu besteigen. Die stickige Hitze benahm den Leuten den Atem, und einige Frauen hakten sich das Mieder auf. Die Männer hingegen behielten ihre schwarzen Leibröcke und ihre Stehkrägen bis oben hin zugeknöpft. Jacquemort betrachtete die Gesichter rund um sich; sie hatten alle einen lebhaften, kernigen Ausdruck und waren wind- und sonnengegerbt und irgendeiner Sache sicher. Der Pfarrer stieg die Treppe zur weißen Kanzel hoch, deren Klapptüren offen standen. Ein sonderbares Modell einer Kanzel. Jacquemort musste an den Schreiner und an den kleinen Lehrling denken und schauderte. Wenn er an den Lehrling dachte, widerte ihn der Geruch des Dienstmädchens an.
Im selben Augenblick, als der Pfarrer zwischen den beiden Pfosten aus hellem Eichenholz erschien, stieg ein Mann auf eine Bank und bat mit mächtiger Stimme um Ruhe. Das Stimmengewirr verebbte. In dem Kirchenschiff herrschte jetzt eine aufmerksame Stille. Erst jetzt auch gewahrten Jacquemorts Augen die unzähligen Ampeln, die in der Kuppel hingen und nun die verwirrende Vielzahl der ineinander verschlungenen und direkt in das enorme Balkenwerk eingeschnitzten menschlichen Figuren sowie das blaue Altarfenster erkennen ließen.
»Lass es regnen, Pfarrer!«, sagte der Mann.
Die Menge wiederholte wie aus einem Munde:
»Lass es regnen! ...«
»Der Klee verdorrt!«, fuhr der Mann fort.
»Lass es regnen!«, brüllte die Menge.
Jacquemort sah, schon beinah taub, wie der Pfarrer mit ausgebreiteten Armen ums Wort bat. Das Gemurmel versickerte. Die Vormittagssonne loderte hinter dem blauen Kirchenfenster. Man konnte nur mit Mühe atmen.
»Ihr Leute aus dem Dorf!«, sagte der Pfarrer.
Seine mächtige Stimme schien von überallher zu kommen, und Jacquemort vermutete, dass eine Lautsprecheranlage ihm zu dieser Stimmfülle verhalf. Die Köpfe wandten sich hinauf zur Deckenwölbung und zu den Seitenwänden. Nicht die Spur von einem Lautsprecher war zu sehen.
»Ihr Leute aus dem Dorf!«, sagte der Pfarrer. »Ihr verlangt Regen von mir, werdet ihn aber mitnichten bekommen. Anmaßend und hochmütig wie die Leghornhühner seid ihr heute dahergekommen, lediglich auf eure fleischlichen Begierden bedacht. Als lästige und freche Bittsteller und Bettler seid ihr gekommen, um etwas zu fordern, was euch nicht zusteht. Es wird nicht regnen. GOtt schert sich nicht um euren Klee! Beuget euren Leib, senket eure Häupter, demütigt eure Herzen, und ich werde euch das Wort GOttes geben. Aber rechnet nicht mit einem einzigen Tropfen Wasser. Dies ist eine Kirche und keine Gießkanne!«
In der Menge wurde Protestgemurmel laut. Jacquemort fand, dass der Pfarrer gut redete.
»Wir wollen Regen!« wiederholte der Mann auf der Bank.
Nach dem Schallgewitter der Stimme des Pfarrers hörte sich sein dünner Schrei lächerlich an, und seine Mitstreiter schwiegen im Bewusstsein ihrer vorübergehenden Unterlegenheit.
»Ihr gebt vor, an GOtt zu glauben!«, donnerte der Pfarrer, »weil ihr sonntags in die Kirche geht, weil ihr eure
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