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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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Mitmenschen schlecht behandelt, weil ihr kein Schamgefühl kennt und weil euch das Gewissen nicht drückt ...«
    Als der Pfarrer das Wort Schamgefühl aussprach, flackerten da und dort Protestschreie auf, verdichteten sich durch das Echo und schwollen zu einem langgezogenen Geheul an. Die Männer trampelten mit geballten Fäusten auf der Stelle. Die Frauen, stumm und mit verkniffenem Mund, sahen den Pfarrer aus hasserfüllten Augen an. Jacquemort kannte sich langsam nicht mehr aus. Der Tumult beruhigte sich etwas, und der Pfarrer ergriff erneut das Wort.
    »Was kümmern mich eure Felder! Was gehen mich eure Viecher und eure Kinder an!« schrie er. »Ihr führt ein materielles und stumpfes Dasein. Ihr habt keine Ahnung vom Luxus! ... Vom Luxus, den ich euch biete: Ich biete euch GOtt ... aber GOtt mag den Regen nicht ... GOtt mag keinen Klee. GOtt kümmert sich wenig um eure miesen Felder und eure miesen kleinen Abenteuer. GOtt ist ein goldbrokatenes Kissen, er ist ein sonnengefasster Demantstein, er ist ein in Liebe ziselierter kostbarer Zierrat, er ist Auteuil, er ist Passy, seidene Soutanen, bestickte Strümpfe, Halsketten und Fingerringe, das Überflüssige, das Wunderbare, die elektrischen Hostienschreine ... Es wird nicht regnen!«
    »Es soll regnen!« jammerte der Wortführer, diesmal unterstützt von der Menge, die wie ein Gewitterhimmel zu grollen anfing.
    »Kehret zu euren Höfen zurück!« tobte die vervielfachte Stimme des Pfarrers. »Kehret zu euren Höfen zurück! GOtt ist die Wonne des Überflusses. Ihr träumt nur von dem Notwendigen. Ihr seid für ihn verlorene Geschöpfe.«
    Ein Mann schob Jacquemort plötzlich grob zur Seite, holte aus und schleuderte einen schweren Stein in die Richtung der Kanzel. Doch schon klappten die eichenen Schwingtürchen zu, und die Stimme des Pfarrers tönte unvermindert fort, während der Fußboden vom dumpfen Aufprall der wuchtigen Steinbrocken erzitterte.
    »Es wird nicht regnen! GOtt ist kein Gebrauchsartikel. GOtt ist ein Festgeschenk, eine kostenlose Gabe, ein Platinbarren, ein Kunstgebilde, ein köstlicher bekömmlicher Leckerbissen. GOtt ist eine Zugabe. Er ist weder für noch gegen. Er ist der reinste Überfluss.«
    Ein Steinhagel prasselte auf die Klapptür der Kanzel.
    »Regen! Regen! Regen!« skandierte nun die Menge in gleichförmigem Rhythmus.
    Und Jacquemort, erfaßt von der Leidenschaftlichkeit, die von diesen Menschen ausging, ertappte sich dabei, wie er mitschrie.
    Wohin er auch blickte, zur Rechten wie zur Linken marschierten die Bauern auf der Stelle; dieses wilde Schuhgetrampel erfüllte die Kirche wie Soldatenschritte über eine eiserne Brücke. Mächtiges Gedränge von den hinteren Reihen schob einige Männer ganz nach vorne zur Kanzel; dort begannen sie, an den vier massiven Stützpfeilern, mit denen die Kanzel im Boden verankert war, zu rütteln.
    »Es wird nicht regnen!« wiederholte der Pfarrer, der hinter seinen Klapptürchen vermutlich in eine totale Trance gefallen war. »Engelflügel wird es regnen! Smaragdene Daunen, Alabastervasen, prachtvolle Kunstgemälde wird es regnen ... aber kein Wasser! GOtt schert sich einen Dreck um euren Klee, Hafer, Weizen, Roggen, Gerste, Hopfen, Buchweizen, Sauerklee, Luzerne, weiße Fettwurz und Salbei ...«
    Jacquemort bewunderte an dieser Stelle des Pfarrers Gelehrsamkeit, doch alle vier Eichenpfosten brachen auf einmal, und man hörte, wie der Pfarrer einen saftigen, von den Lautsprechern vielfach verstärkten Fluch ausstieß, da er sich soeben beim Absturz den Kopf angeschlagen hatte.
    »Schon gut! Schon gut!« schrie er. »Es wird regnen! Es regnet, gleich regnet es!«
    Augenblicklich strömte die Menge zum Kirchenportal zurück, das sich mit beiden Flügeln öffnete. Der Himmel hatte sich schlagartig verfinstert, und die ersten Tropfen schlugen auf den Stufen auf wie weiche Frösche. Dann wurde es ein leibhaftiger Wolkenbruch, der auf die Schieferplatten des Daches trommelte. Man hatte die Kanzel inzwischen wieder recht und schlecht aufgestellt, und der Pfarrer öffnete wieder seine Klapptürchen.
    »Die Messe ist zu Ende«, sagte er schlicht.
    Man bekreuzigte sich, darauf setzten sich die Männer wieder ihre Käppchen auf, die Frauen erhoben sich, und alle gingen hinaus.
    Jacquemort wollte zur Sakristei, musste sich jedoch an einer Holzbank festhalten, um nicht von der Menge mitgerissen zu werden.
    Im Vorbeigehen wurde er vom Schreiner angerempelt, dessen großen Mund und Knollennase er wiedererkannt

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