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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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Als er sich schnell dem Ort der Handlung näherte, traf sein empfindliches Trommelfell ein Schrei. Ein Schmerzensschrei, der dem Erstaunen entstammte, dessen Endergebnis nahe an die Wut heranreicht, jedoch mit einem gewissen passiven Unterton, der ihm keineswegs entging.
    Er beschleunigte seinen Schritt und damit den Puls. Vor einem hohen Tor aus verwittertem Eichenholz kreuzigten einige Bauern ein Pferd. Jacquemort ging näher heran. Sechs Männer hielten das Tier gegen die Holzplanken. Ein siebter und ein achter waren damit beschäftigt, den linken Vorderfuß anzunageln. Der Nagel hatte sich bereits durch die Fessel gebohrt, ein enormer Zimmermannsstift mit glänzendem Kopf, und ein dünner Faden Blutes rann über das braune Fell des Tieres. Dies war die Erklärung für den Schmerzensschrei, den Jacquemort vernommen hatte.
    Die Bauern fuhren in ihrem Tun fort, ohne sich um den Psychiater zu kümmern, als ob der sich weit weg, zum Beispiel auf den Antillen, befand. Einzig das Pferd sah ihn aus seinen großen braunen, tränenüberströmten Augen an und entblößte seine langen Zähne, um ein erbärmliches Entschuldigungslächeln anzudeuten.
    »Was hat es denn getan?«, fragte der Psychiater leise.
    Einer der fünf oder sechs Männer, die zuschauten, antwortete ihm ungerührt:
    »Es ist ein Zuchthengst. Er hat Unzucht getrieben.«
    »Aber das ist doch nicht schlimm«, sagte Jacquemort.
    Ohne eine Antwort zu geben, spuckte sein Gesprächspartner auf die Erde. Nun war man gerade dabei, das rechte Bein des Hengstes anzunageln, und Jacquemort erschauderte, als er sah, wie die Nagelspitze, durch einen Schlag mit dem Hammer eingetrieben, das von der Angst matt gewordene Fell durchbohrte. Wie zuvor entfuhr dem Pferd ein kurzer, fürchterlicher Schrei. Seine Schultern krachten unter der unnatürlichen Spannung, der die Henker sie in ihrem Bemühen ausgesetzt hatten, den Körperteil an der schweren Türe zu befestigen. Das Tier hatte die Ellbogengelenke etwas einwärts gebogen. Die Hufe bildeten einen spitzen Winkel und rahmten den ausdrucksvollen Kopf ein. Schon kamen, angelockt durch das Blut, die ersten Fliegen und blieben im blutnassen Umfeld der Nägel mit den Beinen kleben.
    Die Männer, welche den Hinterleib des Tieres festgehalten hatten, ließen jetzt los und befestigten die Innenseite der Hufe auf dem viereckigen Querbalken, der das Tor unten verriegelt hielt. Jacquemort, starr vor Schreck, ließ sich keine Einzelheit der grausigen Verrichtung entgehen. Er fühlte, wie sich in seiner Kehle eine Rasierklinge bildete, und schluckte sie mit Müh und Not hinunter. Der Unterleib des Hengstes zitterte, sein mächtiges Geschlechtsorgan schien zu schrumpfen und sich in sein Hautfutteral zurückziehen zu wollen.
    Von der anderen Seite des Weges drang Stimmengemurmel herüber. Zwei Männer, deren Ankunft Jacquemort nicht bemerkt hatte, kamen heran, ein erwachsener und ein junger. Der ältere behielt beim Gehen die Hände in den Hosentaschen. Er war von riesiger Gestalt und zottig behaart, seine Arme schauten aus einem Jerseyhemd hervor, und eine brandfleckige Lederschürze schlug ihm um die Beine. Der junge, ein armselig und kränklich aussehender Lehrling, schleppte einen schweren eisernen Kessel voll glühender Kohlen, aus denen der Griff eines Schürhakens herausragte.
    »Ach, da kommt er ja, der Schmied ...«, sagte jemand.
    »Ich muß schon sagen«, konnte Jacquemort sich nicht zurückhalten halblaut zu bemerken, »ihr geht wirklich streng mit dem Tier um.«
    »Das ist kein Tier«, sagte der Bauer, »das ist ein Hengst.«
    »Er hat nichts Schlimmes getan.«
    »Er war frei«, sagte der Mann. »Er hätte nur nicht zu sündigen brauchen.«
    »Aber das ist doch seine Pflicht«, sagte Jacquemort.
    Der Lehrling stellte den Kessel auf dem Boden ab und fachte mit einem Blasebalg das Feuer an. Sein Meister stocherte einen Augenblick lang mit dem Schürhaken in den Kohlen herum; befand dessen Zustand für zweckdienlich, worauf er ihn herausnahm und sich dem Hengst zuwandte.
    Jacquemort wandte sich ab und ergriff die Flucht. Die beiden Fäuste an den Ohren, rannte er linkisch, wegen der an den Hals gepressten Unterarme, davon, selbst lauthals schreiend, um nicht das verzweifelte Wehgeheul des Pferdes hören zu müssen. Er blieb erst stehen, als er den kleinen Platz, ganz in der Nähe der Kirche erreicht hatte. Seine Arme fielen wieder an seinem Körper herab. Der rote Bach, den er soeben auf einer leichten Holzbrücke überquert

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