Der Herzausreißer
sagte Jacquemort, »wenn Sie es recht überlegen, es fährt ja sowieso nie ein Auto auf dieser Strecke. Oder höchst selten.«
»Eben«, sagte Clémentine, »es kommt so selten eines vorbei, dass man an gar nichts Böses denkt, und wenn dann zufällig eins daherkommt, ist es um so gefährlicher. Schon beim bloßen Gedanken läuft’s mir kalt über den Rücken.«
»Sie reden ja schon wie der heilige Bimbam«, sagte Jacquemort.
»Hören Sie auf zu spotten«, sagte Clémentine. »Ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sie selbst hinzubegleiten und wieder abzuholen. Was wollen Sie, wenn man seine Kinder liebhat, nimmt man jedes Opfer auf sich.«
»Damals, als Sie sie noch, ohne sie zu stillen, alleingelassen hatten, um auf Ihren Felsen herumzuklettern, haben Sie diese Konflikte noch nicht so gespürt«, bemerkte Jacquemort.
»Ich kann mich nicht erinnern, sowas je gemacht zu haben«, sagte Clémentine. »Und wenn ich es gemacht habe, muß ich wohl krank gewesen sein. Auf jeden Fall steht es Ihnen am wenigsten zu, mir das vorzuhalten. Sie wissen genau, dass es sich um eine Zeit gehandelt hat, wo Angel noch da war und wo seine bloße Gegenwart ausgereicht hat, mich aus dem Häuschen zu bringen. Mittlerweile aber hat sich alles geändert, und ich bin diejenige, der die ganze Verantwortung für ihre Erziehung zufällt.«
»Befürchten Sie nicht, sie zu sehr von sich abhängig zu machen?«, gab der Psychiater ein wenig beschämt zu bedenken.
»Was wäre natürlicher? Diese Kinder sind mein Ein und Alles, sie sind der einzige Grund, weshalb ich existiere; dafür ist es auch recht und billig, dass sie sich als Gegenleistung daran gewöhnen, sich unter allen Umständen auf mich zu verlassen.«
»Trotzdem meine ich«, sagte Jacquemort, »dass Sie die Gefahr übertreiben ... denn unter diesen Umständen können Sie sie überall lauern sehen; nur ein Beispiel ... ich wundere mich, dass Sie ihnen den Umgang mit Papier erlauben; mit dem Papier könnten sie sich schneiden, und wer weiß, vielleicht hat die Frau, die damit den Block Briefpapier eingepackt hat, ihre Familie einfach mit Arsenik vergiftet und vorher die genaue Dosis auf dem ersten Blatt abgewogen, dieses Blatt Papier kann also vergiftet und gefährlich sein ... bei der ersten Berührung kann eines Ihrer Kinder tot umfallen ... warum lecken Sie ihnen da nicht gleich den Hintern? ...«
Sie dachte einen Augenblick nach.
»Sie wissen«, sagte sie, »... die Tiere machen das durchaus bei ihren Jungen ... vielleicht sollte es eine gute Mutter auch tun ...«
Jacquemort sah sie an.
»Ich glaube, Sie lieben sie wirklich«, sagte er sehr ernst. »Und im Grunde ist an der Geschichte mit dem Arsenik ja nichts Unwahrscheinliches dran, wenn man es sich recht überlegt.«
»Es ist zum Verrücktwerden«, sagte Clémentine aufgewühlt.
Sie brach in Tränen aus.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll ... ich weiß nicht, was ich tun soll ...«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Jacquemort, »ich werde Ihnen helfen. Ich bin mir gerade darüber klargeworden, dass es ein sehr komplexes Problem ist. Aber das lässt sich sicher in Ordnung bringen. Gehen Sie nach oben und legen Sie sich etwas hin.«
Sie ging.
»So also sieht eine Leidenschaft aus«, sagte sich Jacquemort, indem er seinen Weg wieder aufnahm.
Er hätte sie gern am eigenen Leibe erfahren. Aber in Ermangelung dessen konnte er sie immerhin beobachten.
Ein vager Gedanke, den in Worte zu fassen er nicht imstande war, quälte ihn indes. Ein verschwommener Gedanke. Ein nebulöser Gedanke. Auf alle Fälle würde es interessant sein, den Standpunkt der Kinder zu erfahren.
Aber das eilte nicht so sehr.
13
7. Oktember
Sie spielten auf dem Rasen unter dem Fenster ihrer Mutter. Immer weniger duldete sie, dass sie sich entfernten. Vorerst schaute sie ihnen noch zu, verfolgte jede ihrer Bewegungen und versuchte, in ihren Blicken zu lesen. Joël schien weniger lebhaft als gewöhnlich und hängte sich ganz ins Schlepptau seiner Brüder. Mit einem Mal stand er auf, befühlte seinen Hosenboden und sah seine Brüder an. Sie fingen an, um ihn herumzutanzen, als ob er ihnen etwas besonders Lustiges erzählt hätte. Joël rieb sich mit seinen Fäustchen die Augen und weinte sichtlich.
Clémentine verließ ihr Zimmer, lief die Treppe hinunter und war wenige Augenblicke später auf dem Rasen.
»Was ist los, mein kleiner Liebling?«
»Bauchweh!«, schluchzte Joël.
»Was hast du denn gegessen? Hat dir dieser dumme Mensch wieder
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