Der Herzberuehrer
es soll, oder?«
Ich löste meinen Blick vom Glas, welches sich dunkel schimmernd in meiner Hand drehte und versuchte ihm in die Augen zu sehen. »Könnte besser sein...«, bestätigte ich.
»Der tote Junge...«, stellte Matteo fest.
»Das ist es nicht...« Ich lächelte müde in sein Gesicht. »Aber lass uns auf ihn anstoßen...«
Unsere Gläser klirrten.
Nach einiger Zeit fragte er: »Was war das für einer... dieser Junge...?«
Ich schluckte trocken, atmete tief durch.
»Ein Spinner war er. Ein verrückter Kerl...« Dann kamen die Tränen, ganz verhalten, nur ein paar, wie sooft in letzter Zeit. »Er war einfach nur Daniele...«, sagte ich leise, »...Daniele, der Herzberührer...« Man hörte meiner Stimme die Trauer nicht an, da war ich sicher, und doch spürte ich plötzlich die Hand meines Großvaters auf der meinen, wie sie ruhig und tröstend über meine Fingerrücken strich, und ich wusste, dass er verstand...
·
Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, da lag ich zunächst einfach nur ganz still so da und wartete ab.
Ich wollte, dass sich der Schleier des Erwachens völlig verzogen hatte, ehe ich meine ersten konkreten Gedanken verfolgte. Einfach um ganz sicher zu gehen, dass die letzten Stunden tatsächlich so passiert waren, wie ich sie erinnerte.
Der Platz neben mir war leer. Shiro war jetzt sicher gerade damit beschäftigt, die letzten Spuren unserer Frühstücksgäste zu beseitigen.
Ich verschränkte meine Arme hinter dem Kopf und betrachtete die Balken über mir, die durch ihre Schatten ein kantiges Muster an die Decke zeichneten; etwas, das man so nur im Winter beobachten konnte. Die Sonne befand sich zu dieser Zeit auf ihrem Tiefstand. Ich fühlte mich eigenartig befreit...
·
»Wo stehst du gerade, im Leben?«, hatte Matteo mich irgendwann gefragt, in dieser bemerkenswerten Nacht. Ein Rätsel, dass mir selbst nicht aus dem Kopf gehen wollte. Die Antwort darauf musste ich ihm schuldig bleiben. Ich wusste es ja selbst nicht. Aber mir war klar, wie wichtig es war, dafür eine Antwort zu finden.
»Ich beobachte dich schon eine ganze Weile...«, sinnierte er, während er sein Glas zum Mund führte, »...Na ja, genaugenommen beobachte ich dich schon dein ganzes Leben.« Ein trockenes Lachen, dann trank er und schwieg wieder.
»Ja, und?« Meine Neugier war geweckt. »Was siehst du?«
»Ich sehe meinen Enkel, der auf der Suche ist. Das sehe ich! Ich sehe, dass du Fragen hast und nach Antworten suchst. Ich sehe einen Luca, der nicht mal in der Lage ist, ein einfaches Ossobuco zuzubereiten, weil er sich selbst im Weg steht.« Der alte Mann war aufgestanden, schleppend zum Schrank gegangen, in dem Wein und Digestif zum Kochen aufbewahrt wurden, hatte sich zwei Wassergläser gegriffen und war mit einem einfachen Dessert-Grappa zum Tisch zurückgekehrt.
»Weißt du, was wir jetzt machen?«, lautete seine Frage, während des Einschenkens.
»Uns betrinken?« Ich ahnte nichts Gutes.
»Du wirst mir jetzt einfach alles erzählen. Und ich werde dir einfach nur zuhören. Mehr nicht...« Sein Glas war auffordernd an das meine gestoßen.
Ja, und dann, dann hatte ich tatsächlich damit begonnen, ihm mein Herz auszuschütten...
·
Genau dies war es, was ich mir an diesem Morgen noch einmal vor Augen führte, während ich das Schattenspiel an der Decke beobachtete.
Einen Großvater wie Matteo zu haben ist sicher nicht immer einfach, aber dieser alte Mann ist so mit das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.
Die 'Therapie' zeigte tatsächlich Wirkung. Es war gut, die Dinge einfach nur einmal auszusprechen. Ich berichtete ihm von meiner Zerrissenheit, von Shiro und Fabio, von meinen verwirrenden Begegnungen mit Daniele. Zögerlich zu Beginn, sicher, doch dann zunehmend befreiter und ohne Scheu. Die Dunkelheit half mir dabei. Eigentlich sprach ich gar nicht konkret zu Matteo, ich erzählte meine Geschichte dem Raum, oder besser: Ich erzählte sie eigentlich mir selbst. Natürlich ließ ich gewisse Details bewusst aus. Einzelheiten zu meinem Liebesleben, meinen sexuellen Vorlieben hatten im Kopf meines Großvaters nichts zu suchen. Das sah er gewiss nicht anders. Und so wurde mir im Laufe des frühen Morgens, zwischen Chianti und Grappa das eine und andere klar.
Ich musste mit Fabio sprechen - und mit Shiro! Das durfte ich nicht weiter hinauszögern. Denn jetzt wusste ich, wie ich mich zu entscheiden hatte, dank dieser Nacht, dank diesem alten Mann. Nur es zu tun, davor graute mir
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