Der Herzberuehrer
von uns allen fühlte sich wahrscheinlich Jack.
Nachdenklich ließ ich die Fotografie nochmals durch meine Finger wandern. Raoul sah verdammt gut aus. Schlank, mit charaktervollem Kopf, schulterlangen Locken, einer ausgeprägt kantigen Nase und einem Lächeln, das einen in Verlegenheit bringen konnte. »Ich verstehe nach wie vor nicht das 'warum'. Wie kommt so jemand dazu, anderen so etwas anzutun?« Ich begriff es einfach nicht.
»Gebt mir einfach etwas Zeit...«, bat Jack in neutralem Tonfall, »...dann bekommt ihr auch Antworten. Das verspreche ich euch.«
Ich bezweifelte nicht, dass es so kommen würde - ich wusste nur nicht, ob ich das gut finden sollte oder eher bedenklich. Aber da Shiro und Pius Jacks Ankündigung einfach so abnickten, tat ich es ihnen gleich...
19.
Die klirrende Kälte, die über den Bergen lag hatte jeden Laut, der sonst durch die Dunkelheit drang, fest im Griff. Selbst die Tiere schienen in Starre zu verharren.
Es war tief in der Nacht, gegen drei, halb vier, und ich hörte mein eigenes Atmen, so unglaublich still war es.
Fröstelnd stand ich in der geöffneten Sprossen-Tür der Küche, blickte hinaus in die mondbeschienene Landschaft und registrierte den feinen, fast süßlichen Duft der eisigen Luft.
Dann inhalierte ich einen tiefen Zug meiner Selbstgedrehten. Die Wirkung des Nikotins verpasste mir einen netten, kleinen Flash, bevor der Rauch durch meine Nasenflügel als zarte Wolke in die Nacht hinaus verschwand. Es war meine Erste seit Stunden.
Wie immer hatte ich darauf verzichtet, Licht zu machen. Der Mond reichte vollkommen. Es war perfekt so...
Unsere Rückkehr aus Catanzaro lag nun vier Tage zurück.
Ganz in Gedanken hob ich mein Glas, prostete ins Nichts und trank einen Schluck Roten, einen Chianti diesmal, von den Hügeln rund um Greve.
Shiro lag oben, im Bett, in meinem Bett, und das war es, was mich veranlasst hatte, die Küche aufzusuchen - meine Zuflucht.
Ich war verwirrt...
Es war, als trete ich ein Erbe an - Danieles Erbe. Und dieser Gedanke behagte mir nicht.
Ich war so schwach. Warum war ich nicht meiner inneren Stimme gefolgt, einen Schlussstrich unter diese ganze Geschichte zu ziehen?
Ganze Geschichte... Was war das nun wieder? Shiro war keine Geschichte für mich, nicht irgend eine beliebige Episode. Es so zu sehen, wurde uns nicht gerecht. Aber das, was sich da gerade zwischen uns anbahnte, schien mir auch nicht richtig zu sein.
Ich trank einen weiteren Schluck, zog noch einmal an der Zigarette, bevor ich sie nach draußen schnippte und schloss dann die Tür, um die Kälte auszusperren.
Es war so eigenartig: Shiro war irgendwie nicht Shiro. Nicht mein Shiro...
Alles fühlte sich 'neu' an, so... fremd. Unsere Begegnungen hatten kaum Vertrautes. In Catanzaro war mir das überhaupt nicht aufgefallen, doch hier...
Ich spürte, wie sehr er sich wünschte, mir nahezukommen.
Doch es gelang ihm nicht...
Vermutlich lag es an mir.
Es war ein Dilemma. Ich wusste mal wieder nicht, was ich eigentlich wollte, wusste nicht, was das richtige war.
Fabio... mein Fabio! An ihn musste ich pausenlos denken. War es zunächst 'Ele gewesen, der durch meine Gedankenwelt spukte, so wurde er nun von Fabio abgelöst. Vor zwei Tagen hatte es angefangen - da hatte ich begonnen, ihn zu vermissen. Klar, so ungewöhnlich war das jetzt auch wieder nicht. Er gehörte hier her, auf meinen Berg. Das war schon immer so gewesen. Und zu alledem regte sich nun in mir so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass...
»Nicht erschrecken, Kleiner...«
Ich fuhr herum, und da stand Matteo, die Arme beruhigend ausgestreckt, in seinem verschlissenen, blau-rot-gestreiften Bademantel, das graue Haar wirr nach allen Seiten abstehend.
»...Konnte nicht schlafen...«, erklärte er sich. »Senile Bettflucht nennt man das wohl...« Er lachte rau. »Noch 'n Schluck übrig für mich...?«
Ich nickte ins Dunkel, dankbar, dass er darauf verzichtet hatte, das Licht einzuschalten, griff zur Flasche und stellte sie auf den Tisch. Gesellschaft passte mir jetzt eigentlich gar nicht.
»Zu zweit trinkt sich's leichter...«, fabulierte er, während wir uns setzten, und er sich ein- und mir nachschenkte. Am Weiß seiner Zähne konnte ich sehen, dass er grinste.
Eine ganze Zeitlang saßen wir dann nur so da, den Blick aus dem Fenster gerichtet, in das grandiose Blau der Nacht. Wir schwiegen und tranken.
Doch schließlich stellte er irgendwann fest: »Läuft nicht so, wie
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