Der Herzog und seine geliebte Feindin
„Keine Zeit, etwas zu essen“, erklärte er fast entschuldigend, ehe er es sich in den Mund steckte. „Und ich merke jetzt erst, dass ich halb verhungert bin.“
Sie setzte sich neben ihn. „Ich bin selbst ein bisschen hungrig.“
Vermutlich logen sie beide. Und vermutlich wussten sie das auch beide.
Dennoch nahm sich Minnie etwas von dem Brot, um ihm Gesellschaft zu leisen, und während er aß, zerpflückte sie es in lauter kleine Teilchen. Wenn sonst nichts, so stachelte ihn ihre Gegenwart immerhin dazu an, dem Essen vor ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er aß mechanisch – Erbsen und Rüben und Karotten sowie das Fleisch mit der Soße, die inzwischen geronnen war. Ihr drehte sich dabei der Magen um, aber er schien nichts von dem zu schmecken, was er sich in den Mund steckte. Er wirkte überrascht, als seine Gabel nichts mehr auf dem Teller fand.
„Langer Tag“, sagte er. „Ich denke, ich gehe gleich ins Bett.“ Aber er stand nicht auf.
Minnie wertete das als Einladung, zum Sideboard zu gehen und ein Glas Sherry einzuschenken. Sie brachte es ihm, und ihre Finger berührten sich, als sie es ihm reichte.
„Wird alles gut werden?“, fragte sie.
Als Antwort stützte er den Kopf in seine Hände. Minnie legte ihre Finger über seine. Seine Haut fühlte sich ganz warm an. Fast konnte sie das Pochen in seinen Schläfen spüren. Langsam rieb sie ihm die Stirn; er machte einen leisen Laut und lehnte sich dagegen.
„Ich weiß es nicht“, erklärte er leise. „Ich bin nicht …“ Er wandte den Kopf zur Seite, um ihr in die Augen zu sehen, dann blickte er rasch wieder weg. „Ich bin mir nicht sicher.“ Mit seinen Fingern trommelte er auf den Tisch. „Aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um das zu erreichen. Mein Bruder …“ Er atmete noch einmal tief ein. „Meinem Vater war es egal. Er wollte ihm nicht helfen. Oliver wuchs ohne die Vorteile auf, die für mich ganz selbstverständlich waren. Jetzt zu sehen, wie er die Schuld für etwas bekommt, was ich getan habe – Minnie, das kann ich nicht zulassen. Ich habe das Gefühl, gleich verrückt zu werden, wenn ich nur daran denke. Das musst du wissen.“
„Ich weiß.“ Sie rieb ihm die Stirn. „Aber du tust doch alles, was du nur tun kannst.“
„Ja.“ Seine Stimme war so ausdruckslos. „Dennoch, ich kann nicht erkennen, wie das hier gut werden soll.“
„Vielleicht nicht. Aber was immer geschieht, wir werden uns allem gemeinsam stellen.“
Er holte noch einmal tief Luft. „Minnie … Morgen wird es einen regelrechten Menschenauflauf im Gericht geben. Jemand hat die Londoner Zeitungen darauf aufmerksam gemacht, dass ich aussagen werde, und jetzt werden nicht nur zwei Reporter daran teilnehmen, sondern zwanzig.“
„Willst du mich damit fragen, ob ich mit den vielen Menschen zurechtkomme? Ich kann mich darin aufhalten. Ich fühle mich dabei nicht wohl, aber solange mich niemand anschaut, komme ich damit klar.“
Wenn überhaupt, dann steigerte sich das Unbehagen in seinem Blick nur noch. Er schien geradewegs an dem Tisch in sich zusammenzusinken. „Ich … Minnie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss dort sein“, erklärte sie. „Es geht nicht anders. Daher werde ich das tun.“ Sie würde die Details später klären.
Er schüttelte den Kopf. „Wenigstens ist etwas Gutes dabei herausgekommen. Ich bin nach Leicester gefahren, um dem Missbrauch des Vorwurfs der Volksverhetzung als Mittel zur Verhinderung von Streiks ein Ende zu bereiten. Jetzt weiß ich, wer dahinter steckt.“ Er schenkte ihr ein knappes Lächeln. „Ich habe ein höchst interessantes Gespräch mit … mit einem Friedensrichter darüber geführt, was Stevens als Gegenleistung dafür verlangt hat, damit er die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten hilft. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden.“
„Gut“, erwiderte Minnie. „Ausgezeichnet. Ich habe noch etwas für dich, und ich hoffe, es ist ebenfalls gut. Ich habe dir etwas besorgt.“ Sie deutete auf den in braunes Papier gewickelten Gegenstand, den sie vorhin mit ins Zimmer genommen hatte.
Er betrachtete das rechteckige Päckchen argwöhnisch, dann fasste er es an einer Ecke und zog es zu sich. „Was ist das?“
„Ein Geschenk.“
„Ich habe nicht Geburtstag.“ Er sah sie an. „Es ist auch nicht Weihnachten, noch für mehr als einen ganzen Monat nicht.“
„Es ist kein Geschenk zu irgendeinem Anlass.“ Ihr Herz klopfte schneller.
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