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Der heulende Müller

Titel: Der heulende Müller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arto Paasilinna
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er von irgendeinem größeren Hügel aus zusehen? Er könnte auf einen Baum klettern und alles durch Ervinens Fernglas beobachten. Die Ansagen auf dem Platz würden nicht weit zu hören sein, aber was machte das schon. Hauptsache, er konnte die Wett­ kämpfe und den Gouverneur sehen.
    »Und ich brauche keinen Eintritt zu bezahlen.« 32
    Huttunen verließ seinen Lagerhügel am Sonntag schon in den frühen Morgenstunden, damit er das Kirchdorf erreichte, bevor die Leute aufstanden. Er entwendete gewohnheitsmäßig am Ufer des Kemiflusses ein Boot und ruderte hinüber. Das Dorf schlief. Es war kühl, fast schon herbstlich, und noch dunkel. Huttunen suchte nach einer geeigneten Anhöhe, von der er die Leichtath­ letikwettkämpfe verfolgen konnte, ohne entdeckt zu werden.
    In der Nähe des Kirchdorfes gab es zwei große Hügel. Sie eigneten sich jedoch nicht als Aussichtspunkte, denn auf dem einen sah man nur das Schindeldach und den Turm der neuen Kirche, und auf dem anderen wurde der Blick vollständig verdeckt durch den Schlauchturm der Feuerwehr. Die dritte Möglichkeit wäre, die Wettkämpfe fern vom Reutuberg aus zu beo­ bachten, doch die Entfernung war zu groß – nicht ein­ mal mit Ervinens starkem Fernglas ließen sich Einzel­ heiten erkennen.
    Den besten Überblick hätte Huttunen vom Turm der Feuerwehr gehabt. Doch dort hinaufzusteigen war ris­ kant, denn der Straßenmeister hatte seine Wohnung im Erdgeschoß des Gebäudes. Blieb als letzte Möglichkeit noch der Glockenturm der neuen Kirche. Wenn er es dort versuchte?
    Huttunen schlich über den einsamen Friedhof und versuchte es mit den Kirchentüren. Sie waren allesamt verschlossen. Hinter der Sakristei führte eine Tür in den Keller. Sie war ebenfalls verschlossen, doch das Fenster daneben ließ sich nach innen drücken. Huttunen kroch in den Keller und schob das Fenster hinter sich zu.
    In dem dunklen, öden Verlies roch es muffig. Im Licht eines Streichholzes sah Huttunen einen großen Raum über der blanken Erde. Wurde hier der Abendmahlswein gelagert? Stieß man womöglich auf uralte Totengebeine? Doch obwohl Huttunen mehrere Streichhölzer anriß, entdeckte er weder Weinflaschen noch ein einziges Gerippe. Statt dessen sah er einen Stapel verschimmel­ ter Ziegelsteine und daneben eine Schubkarre und einen Betonmischer. Der Keller wurde also als Lager für Bau­ material benutzt. Auch dürften hier wohl kaum jemals Menschen bestattet worden sein, denn die Kirche stammte vom Beginn des Jahrhunderts.
    Aus dem Keller führten Stufen nach oben. Die Tür am oberen Ende der Treppe war offen, Huttunen gelangte in die Sakristei. Von dort hatte er ungehinderten Zutritt zu dem gewaltigen Kirchenraum, der mit Brettern verschalt und blaugrau angestrichen war. Selbst jetzt im Däm­ merlicht war zu erkennen, wie verwittert die Farbe war, große Stücke waren abgeblättert und herabgefallen. Die größenwahnsinnigen Bauern des Sprengels hatten seinerzeit eine zu große Kirche gebaut, und ihre Söhne waren nun nicht mehr in der Lage, das Gebäude zu unterhalten. Ob es an Glauben oder an Geld mangelte, konnte Huttunen nicht beurteilen.
    Er konnte es sich nicht verkneifen, die Kanzel zu be­ treten. Er nahm eine priesterliche Haltung ein und stieß ein gewaltiges Geheul aus. Von den hohen Wänden der Kirche dröhnte ihm ein solches Echo entgegen, daß er erschrak und schnell die Kanzel verließ. Er stieg auf die Empore. Hinter der Orgel führte eine Wendeltreppe in den Turm. Die Treppe machte sieben volle Drehungen, ehe sie im Glockenstuhl endete. Der Raum war klein, eine sechseckige Kabine, in deren Mitte zwei Glocken hingen, eine größere und eine kleinere. Es gab runde Fenster nach allen Richtungen, sie waren nicht verglast – natürlich nicht, sonst wäre das Geläute nicht weit genug zu hören. Als Huttunen durch eine der Öffnungen nach unten spähte, schwindelte ihm von der Höhe.
    Vom Glockenturm bot sich eine überwältigende Aus­ sicht auf das Kirchdorf und die Bergrücken in blauer Ferne. Am allerbesten war der Sportplatz zu sehen: er lag wie auf einem Tablett direkt vor den Augen des Betrachters. Mit einem Blick konnte man die Wettkämp­ fe in allen Disziplinen verfolgen. Einen besseren Zu­ schauerplatz hätte Huttunen nicht finden können. Er stellte das Fernglas scharf. Seinetwegen konnten die Wettkämpfe beginnen.
    Schließlich wurde es Tag, es ging auf zehn. In gut ei­ ner Stunde würde die Veranstaltung beginnen. Huttu­ nen studierte das

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