Der heulende Müller
sich vorstellen, daß die infernalischen Klänge weit zu hören waren, bis in die entlegensten Dörfer. Bloß gut, daß nicht auch noch Rovaniemi Zeuge wurde, wie in diesem frommen Sprengel das Christenvolk zum Gesang gerufen wurde.
Es gelang Huttunen, einen flüchtigen Blick auf seine Taschenuhr zu werfen. Sie zeigte eine Minute vor zehn. Er beschloß, um Punkt zehn mit dem Läuten aufzuhö ren. So sei es üblich, schätzte er, schließlich mußte ja auch der Pastor mit seinem Part an die Reihe kommen. Die Ohren waren ihm schon völlig betäubt von dem satanischen Gedröhn.
Um zehn Uhr ließ er die Glockenseile aus den Hän den. Die kleinere Glocke schlug noch zweimal an, die große einmal. Im Glockenstuhl breitete sich eine himm lische Stille aus.
Nach einiger Zeit klang unten aus der Kirche andäch tiger Gesang. Das Christenvolk hatte an Huttunens Geläut nichts Außergewöhnliches gefunden.
Von der Predigt des Pastors war oben nichts zu ver stehen, doch als das Schlußlied ertönte, konnte auch Huttunen nicht umhin, mit einzustimmen. Der Gottes dienst war zu Ende, und die Leute verließen die Kirche, um geradewegs auf den Sportplatz zu eilen. An diesem Sonntag hatte niemand die Kollekte durchgeführt, denn der Küster war krank, und sein Stellvertreter saß gefes selt im Glockenstuhl. Anscheinend hatte kein Gemein demitglied diesen Umstand bedauert. Huttunen fühlte einen Stich in der Brust – er war schuld, daß die Kinder in irgendeinem heidnischen Land keine Missionsgelder der Gemeinde erhielten. Wenn er irgendwann ein begü terter Geschäftsmann war, so beschloß er, würde er der Gemeinde und den Missionaren den entstandenen Schaden ersetzen.
Aus dem Lautsprecher auf dem Sportplatz ertönten Rufe. Huttunen stellte sich an die Fensteröffnung und hob Ervinens Fernglas. Er sah Wettkämpfer in Trai ningsanzügen und Hunderte von Zuschauern. An einer Seite des Platzes, in der Nähe des Tores, war mit Bret-tern eine Art Umzäunung geschaffen worden, in der einige Stühle standen. Auf dem vordersten saß der Gouverneur und um ihn herum die Mächtigen des Sprengels – der Kommissar, der Vorsitzende der Ge meindevertretung, Doktor Ervinen, der Pastor und ein paar Bauern, unter ihnen Viittavaara und Siponen. Ersterer war mit seiner Frau zum Festplatz gekommen, letzterer beehrte die Veranstaltung allein.
Huttunen versuchte, die Klubberaterin Sanelma Käyrämö mit dem Fernglas einzufangen. Systematisch suchte er die Zuschauerreihen ab. Schließlich erkannte er sie, sie stand außerhalb des Platzes auf einer kleinen kiefernbewachsenen Anhöhe neben dem Friedhof. Dort befand sich eine ganze Gruppe junger Frauen in bunten Röcken und Kopftüchern. Huttunen freute sich bei Sanelmas Anblick so sehr, daß er drauf und dran war, ihr einen Gruß hinüberzuheulen.
Der Gouverneur sprach. Die Lautsprecher waren so aufgestellt, daß im Glockenturm eigentlich zwei Reden zu hören waren. Es klang, als ahmte der Gouverneur sich selbst nach. Der Redner unterstrich den erheben den Einfluß des Sports auf die Moral und forderte die Bürger auf, jede Gelegenheit zum sportlichen Wettstreit zu nutzen. Er wies auf die Reparationen hin, zu deren Zahlung Finnland verpflichtet worden und deren Ablei stung der große sportliche Erfolg einer ganzen Nation gewesen sei.
»Wenn sich der Zug mit den Reparationsgütern an der Landesgrenze auch nur um eine, ja eine Zehntelsekunde verspätete, so forderte der Empfänger sofort hohe Geld strafen. Möge dies der Jugend unseres Landes als an schauliches Beispiel dafür dienen, daß man am Ziel band nicht zu spät eintreffen darf.«
Der Gouverneur wies auf die Olympischen Spiele hin, die im nächsten Sommer in Helsinki stattfinden sollten. Er sprach die Hoffnung aus, daß auch Sportler dieses Sprengels daran teilnehmen und viele goldene und silberne Medaillen nach Lappland heimbringen würden.
Nach der Rede begannen die Wettkämpfe. Knecht Launola kroch zu Huttunen und gab mimisch zu verste hen, daß er ebenfalls zuschauen wollte. Obwohl Huttu nen ihn nicht leiden konnte, machte er ihm trotzdem am Fenster Platz. Dankbar verfolgte der unglückliche Ver treter des Küsters die Wurfdisziplinen. Ein Mann aus Kantojärvi warf gerade den Speer. Das Gerät flog in die Loge des Gouverneurs, und der Sportler wurde sofort disqualifiziert, obwohl er in Führung lag.
Im Stabhochsprung wurden gute moderne Bambus stäbe benutzt. Huttunen erwartete ein entsprechendes
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