Der heulende Müller
Ergebnis, wurde aber enttäuscht, denn der Sieger über sprang mit Mühe 3,45 Meter. Als ihm nach dem Wett kampf der silberne Löffel überreicht wurde, konnte Huttunen nicht an sich halten und rief vom Kirchturm:
»Tolpatsch!«
Der Ruf durchschnitt den Himmel über dem Sport platz. Die Zuschauer und die Ehrengäste starrten in die Wolken, aus denen die Stimme anscheinend gekommen war. Gerade in diesem Moment flogen vom Friedhof her zwei Krähen taumelnd über den Platz und krächzten scheußlich. Der Gouverneur und das übrige Publikum richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Wett kampfgeschehen.
Den 400-Meter-Hürdenlauf verfolgte Huttunen mit Spannung. Es gab nur drei Teilnehmer sowie den Foto grafen der Nordnachrichten, der mit wehendem Trench-coat neben den Sportlern herlief und Aufnahmen mach-te. Huttunen fand, den harten Kampf habe am Ende der Fotograf gewonnen, denn auf der Zielgeraden verletzte sich der führende Läufer an der letzten Hürde so stark das Knie, daß man ihn zu Doktor Ervinen in die Ehren loge tragen mußte. Ervinen verbeugte sich höflich vor dem Gouverneur, zog dem Wettkämpfer die Trainings-hose herunter und schlug ihm mit der Handkante gegen das Knie. Ein Schmerzensschrei durchschnitt die Luft.
So verfolgten Huttunen und Knecht Launola die Meisterschaften von Anfang bis Ende. Mehr als auf die Wettkampfsieger war Huttunens Fernglas jedoch auf die Klubberaterin Sanelma Käyrämö gerichtet, deren goldenes Haar anmutig im Spätsommerwind wehte.
33
Nach dem offiziellen Programm war der Gouverneur bei Kommissar Jaatila zu Gast. Man hatte für ihn die Sauna geheizt, die am Kemifluß stand. Auf der Veranda wurden Appetithappen serviert, es gab Kaffee. Im Gefolge des Gouverneurs befanden sich außer dem Kommissar noch Doktor Ervinen, der Pastor, der Vorsitzende der Ge meindevertretung und Bankdirektor Huhtamoinen. Auf den Lehrer hatte man verzichtet, statt dessen aber Viittavaara eingeladen, denn der besaß immerhin einen ansehnlichen Hof und war durch die Koreakonjunktur zu Reichtum gekommen.
Die Gespräche drehten sich um den Koreakrieg, die Olympischen Spiele, die Reparationen, die Industrialisie rung Lapplands sowie die Abholzungen, die jetzt auch auf den staatlichen Ländereien eingeleitet worden wa ren.
»Unser Volk wird wieder hochkommen«, konstatierte der Gouverneur, als er nackt aus dem kühlen Wasser des Kamiflusses stieg.
Als die erlauchte Gesellschaft die Sauna verlassen und sich in das Zimmer des Kommissars zurückgezogen hatte, wurde eine kleine Kognakflasche geöffnet und ein Glas zur Brust genommen. Ein einziges, denn bedauerli cherweise war der Gouverneur ein Verfechter der Absti nenz.
»Apropos, etwas ganz anderes… Bis hinauf nach Rovaniemi geht die Rede, daß Sie hier im Sprengel einen geisteskranken Mann haben, der sich einer klinischen Behandlung in Oulu widersetzt. Es wird erzählt, er soll abends zur eigenen Erbauung wie ein Wolf heulen.«
Der Kommissar räusperte sich. Er spielte den Fall herunter, sagte, solche Irren gebe es immer, in jedem Dorf…
Aber Ervinen und Viittavaara begannen mit kognak geröteten Gesichtern, dem Gouverneur vom Treiben des Müllers Gunnar Huttunen zu berichten. Sie zählten alle seine Taten einzeln auf, behaupteten, er sei gefährlich, habe eine Waffe und halte das ganze Kirchdorf in Angst und Schrecken. Man komme gegen den Mann nicht an.
Der Kommissar versuchte das Ganze zu mildern. Er erklärte, der Müller sei an sich nicht gefährlich, nur einfältig und ein bißchen verrückt, es lohne nicht, ihn ernst zu nehmen.
»Ich würde Müller Huttunen letztendlich als fröhli chen Irren bezeichnen… Er ist zwar unruhig, aber unge fährlich und von seinem Grundwesen her ein recht verträglicher Mann.«
Der Gouverneur hatte jedoch genug gehört: »Es kommt nicht in Frage, daß in meinem Bezirk ein
bewaffneter geistesgestörter und, nach allem zu urteilen, sehr gefährlicher Mann frei im Wald herumläuft. Kom missar Jaatila! Sie müssen die Suche verstärken. Dieser Mann ist unverzüglich in die Klinik zu schaffen. Für Individuen wie ihn gibt es spezielle staatliche Einrich tungen.«
Gerade in diesem Moment ertönte fern vom Reutuberg ein trauriges Geheul. Das Fenster stand einen Spalt offen, der Gouverneur stieß es ganz auf und lauschte aufmerksam. Sein Gesicht hellte sich vor Spannung auf.
»Ein Wolf? Ist das nicht der Ruf eines Wolfes?« Der Kommissar trat ans Fenster, tat, als lausche
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