Der Hexenturm: Roman (German Edition)
herum?« Da er für seine mächtige Erscheinung eine recht hohe Stimme hatte, verlor Clemens seine Angst und musste sich ein Lachen verkneifen.
»Ich möchte Frau Rehmringer sprechen«, antwortete er selbstbewusst. Sein Gegenüber musterte ihn abfällig.
»Ach ja? Warum?«
»Das werde ich ihr selbst sagen!«
Der Bursche zog seine Stirn in Falten und drohte mit seiner hellen Stimme: »Verschwinde, bevor ich mich auf dich werfe und dich wie eine Laus zerquetsche!«
Die Drohung hörte sich mit dieser Stimme so lustig an, dass Clemens kurz den Blick senkte und sich auf die Lippen biss, um nicht aufzulachen. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich beruhigt und erwiderte: »Sag Frau Rehmringer, dass Clemens sie sprechen möchte. Dann sehen wir weiter.«
Wieder zeigten sich Falten auf der Stirn des anderen. »Clemens?«, murmelte er. »Warte hier!«
Kurz darauf sah Clemens, wie der Bursche ihm vom Wohngebäude aus Zeichen gab, zu ihm herüberzukommen. Eilig überquerte Clemens den Hof. »Sie will dich sehen«, sagte der Kerl unfreundlich und führte ihn in die gute Stube, wo er ihn stehen ließ.
Um sich abzulenken, betrachtete Clemens die Porzellanfiguren in der Glasvitrine, als eine Magd hereinkam, die ihn mürrisch aufforderte, ihr zu folgen. Nebeneinander stiegen sie eine breite Treppe nach oben, deren dunkles Holz matt und staubig war. Spinnweben waren zwischen den einzelnen Pfosten zu erkennen.
Im oberen Geschoss klopfte die Magd an eine wuchtige Tür. Von drinnen war ein zartes Stimmchen zu vernehmen, das »Herein« rief. Auffordernd sah die Magd Clemens an und verschwand auf der Treppe nach unten.
Clemens atmete tief ein und betrat den Raum. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Vor den Fenstern hingen schwere dunkle Vorhänge, die nur spärliches Licht ins Zimmer ließen. Es dauerte ein wenig, bis er sich an das fahle Licht gewöhnt hatte. Ein großes Eichenbett mit einem Baldachin stand vor ihm an der Wand. Clemens hatte das Gefühl, in eine Grabkammer eingetreten zu sein.
»Clemens? Clemens Arnold? Bist du es wirklich?«, fragte die schwache Stimme vom Bett aus.
»Ja, Frau Rehmringer. Ich bin es tatsächlich!«
Er glaubte leises Wimmern zu hören und wagte sich einige Schritte weiter in den Raum hinein. Kurz vor dem Bett blieb er stehen. Die Augen der alten Frau musterten ihn ungläubig. »Wer seid Ihr?«, flüsterte sie. Erregt hob und senkte sich ihr Brustkorb.
»Frau Rehmringer, Ihr müsst keine Angst haben. Nur mein Aussehen hat sich verändert, aber ich bin immer noch der Clemens, den Ihr kennt.«
»Was hat man dir angetan?«, flüsterte sie, und dieses Mal konnte man das Entsetzen aus ihren Worten heraushören. Clemens schüttelte zaghaft den Kopf. »Das ist im Moment nicht wichtig, Frau Rehmringer. Was ist mit Eurem Sohn passiert?«
Mit dem Zipfel der Bettdecke tupfte sie sich die Tränen fort und erklärte: »Ach Clemens, großes Unglück ist über uns gekommen.« Sie schluckte, bevor sie weitersprach: »Melchior wollte sich den Beschlag eines Pferdes ansehen, als der Hengst seitlich austrat und ihn am Kopf traf. Zwar lebte mein Sohn noch einige Tage, doch er erlangte sein Bewusstsein nicht wieder. Es war ein schrecklicher Unfall.« Die Frau schluchzte laut auf. »Melchior war ein Pferdekenner und hätte wissen müssen, dass dieser Hengst sich nicht ohne Probleme die Hufe heben lässt, zumal der Hufschmied ihn gewarnt hatte, dass er nicht von der Seite an den Hengst herantreten sollte. Aber du kanntest ja meinen Sohn! Er hat sich nie etwas sagen lassen – wusste immer alles besser. Und diese Rechthaberei hat er mit dem Leben bezahlen müssen.« Trauer und Wut schwangen in ihrer Stimme mit, als sie hinzufügte. »Er hat mich mit alldem allein gelassen. Mich, die ich eine alte Frau bin!«
Als die Frau erneut in Tränen ausbrach, setzte sich Clemens auf die Bettkante und nahm tröstend ihre Hand in seine. »Es tut mir von Herzen leid, Frau Rehmringer. Ich habe Euren Sohn gemocht und geschätzt.«
Sie schluckte. »Ja, das weiß ich, Clemens.«
Erneut betrachtete sie sein Gesicht. »Erzähl mir, was dir passiert ist. Wie geht es Anna?«
Als sie den Namen seiner Schwester erwähnte, kämpfte auch Clemens mit seinen Gefühlen. Zögerlich erzählte er ihr seine Geschichte und den Grund für sein Kommen.
Stunden später schloss Clemens die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Fassungslos schüttelte er immer wieder den Kopf. Damit hatte er nicht gerechnet. Erschöpft ging er
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