Der Hexer - NR04 - Bote vom Ende der Nacht
etwas Besonderes auf sich hatte, und sehr wenige mochten auch instinktiv spüren, daß es kein angenehmes Geheimnis war, das sich hinter der schlohweißen Strähne verbarg. Ich hatte das sichere Gefühl, daß Tornhill zur letzten Gruppe gehörte.
Wenn ich mich nur erinnern könnte! Es war alles da, greifbar und nah, aber zwischen mir und meinem Denken schien eine unsichtbare Wand zu sein.
»Dann gehört Ihnen also dieses Haus«, fuhr Tornhill nach einer Ewigkeit fort.
Ich nickte. Die unsichtbare Hand fuhr wieder durch mein Gehirn, tastend, sondierend, suchend. Jemand spielte Scrabble mit meinen Erinnerungen, aber dieser Jemand mußte Analphabet sein. »Was... ist passiert?« fragte ich.
Tornhills linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben, wie ein haariger Wurm, der seine Glatze hinauf kroch. »Sie wissen es wirklich nicht?« fragte er. Seine Stimme klang noch immer kalt, aber schon merklich freundlicher als bisher. Einer seiner Assistenten – es waren allein drei hier in der Bibliothek, und den Geräuschen nach zu schließen mußte sich noch eine ganze Armee draußen im Haus aufhalten – trat neben ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tornhill scheuchte den Mann mit einer unwilligen Geste fort und knurrte »später!«.
»Was passiert ist?« fragte er, wieder an mich gewandt. »Nun, eigentlich hatte ich gehofft, eine Antwort auf diese Frage von Ihnen zu erhalten. Jemand hat uns alarmiert, weil er Schreie und Schüsse aus dem Haus gehört hat.« Er zog eine Grimasse. »Ein brennender Mann soll aus dem Fenster gefallen sein.«
Die Gestalt taumelte wie eine lebende Fackel auf mich zu. Ich schoß immer und immer wieder, und ich sah, wie die Kugeln als kleine weißglühende Bälle in der Flammensäule explodierten, in die sich der Unheimliche verwandelt hatte, aber er kam näher und näher, die lodernden Hände vorgestreckt.
Ich stöhnte. Das Bild war wie eine Explosion in meinem Geist erschienen. Im ersten Moment erschien es mir zu schrecklich, um wahr sein zu können, ein Bild aus einem Alptraum. Aber ich wußte, daß es passiert war.
»Was haben Sie?« fragte Tornhill.
»Nichts.« Ich schüttelte hastig den Kopf und richtete mich ein wenig in dem Sessel auf, in den mich Tornhill und sein Assistent gedrückt hatten. »Sprechen Sie weiter.«
Tornhills Augenbraue glitt noch ein Stück weiter nach oben und erreichte jetzt fast den Scheitel. Aber er fuhr unbeeindruckt fort: »Das ist es eigentlich schon. Mit Ausnahme von acht Toten und zwei Bewußtlosen, heißt das.«
»Toten?« Wieder blitzte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Rowlfs Gesicht, verzerrt vor Schmerzen und über und über voller Blut. Howards verzweifelter Schrei. Das Ungeheuer...
»Ihre Hausangestellten, Mister... Craven«, antwortete Tornhill. »Und ein Mann, in dessen Tasche ein gefälschter Paß war, der auf den Namen...« Er stockte, griff in die Innentasche des kleinen Zeltes, das er anstelle eines Überrockes trug, und nahm einen zerknitterten Paß heraus.
»Da haben wir es ja. Dr. Dr. Dr. Mortimer Gray«, las er vor und sah mich prüfend an. »Hat er gestottert?«
»Dr. jur., Dr. phil. und Dr. med.«, erklärte ich. Tornhill wußte recht gut, was die drei »Dr.« zu bedeuten hatten. »Hören Sie auf, den Deppen zu spielen, Tornhill.«
Ein amüsiertes Glitzern erschien in seinen Augen. »Wer war es wirklich?« fragte er.
»Wie kommen Sie darauf, daß dieser Mann nicht Dr. Gray war?« erwiderte ich; nur, um Zeit zu gewinnen. Wieder zuckten Bilder durch meinen Kopf. Und allmählich begannen sie sich zu einem Ganzen zu formen.
»Ich kenne Dr. Gray«, antwortete Tornhill. »Er ist ein berühmter Anwalt und Arzt, das sollten Sie wissen, Craven. Ich hatte oft genug mit ihm zu tun. Dieser Tote hier ist auf keinen Fall Dr. Mortimer Gray. Und ich hätte seinen falschen Paß nicht gebraucht, um es zu merken.«
Plötzlich stand er auf, knallte den Ausweis mit einer wütenden Bewegung auf den Tisch und funkelte mich an. Von seiner Ruhe war nichts mehr geblieben.
»Verdammt, Mister Craven«, schnauzte er. »Ich werde zu einem Haus gerufen, in dem ein Massaker stattgefunden hat, und alles, was ich von Ihnen höre, sind Fragen! Wie wäre es mit ein paar Antworten?« Er trat auf mich zu und beugte sich vor.
»Wo waren Sie?« brüllte er. »Meine Männer haben dieses Zimmer auf den Kopf gestellt, zweieinhalb Stunden lang, und es war keine Spur von Ihnen zu sehen!«
Ich hielt seinem Blick einen Herzschlag lang stand, ehe ich auf die Uhr
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