Der Hexer - NR08 - Im Bann des Puppenmachers
geraubt, aber es konnte kaum mehr als eine Minute vergangen sein, denn das erste, was ich wahrnahm, war das schrille Pfeifen der Lokomotive. Sekundenlang blieb ich reglos liegen und wartete darauf, daß der hämmernde Schmerz in meinem Hinterkopf nachließ, dann öffnete ich die Augen, erkannte einen Ausschnitt regengrauen Himmels über mir und fand mich langsam mit der Tatsache ab, noch am Leben und – wenigstens einigermaßen – unverletzt zu sein.
Mühsam richtete ich mich auf. Das quälende Hämmern in meinem Schädel ließ rasch nach, aber in meinem Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht irgendwie geprellt, gestaucht oder überdehnt war. Als ich versuchte, mich auf Händen und Knien zu erheben, unterdrückte ich nur mit Mühe einen Schmerzensschrei.
Dabei hatte ich noch Glück gehabt. Ich war nicht direkt auf den schotterbestreuten Bahndamm geprallt, sondern ein Stück weit die Böschung hinabgerollt, ehe ein Busch meinen rasenden Sturz gebremst (und mich vermutlich vor einigen üblen Knochenbrüchen oder Schlimmerem bewahrt) hatte. Wenn ich von den zahllosen Kratzern und Abschürfungen an meinen Händen und dem Gesicht absah, schien ich fast unverletzt zu sein.
So unverletzt, wie man eben ist, wenn man von einem mit voller Geschwindigkeit dahinpreschenden Eisenbahnzug springt...
Irgendwo, sicher schon eine oder zwei Meilen von mir entfernt, pfiff die Lokomotive ein weiteres Mal, und der Laut erinnerte mich daran, daß ich einen triftigen Grund gehabt hatte, vom Dach des Waggons zu springen. Ich bog die Zweige des Busches auseinander, sah mich sichernd nach beiden Seiten um und trat dann vollends aus meiner Deckung hervor. Mühsam – und noch immer unsicher auf den Beinen – erklomm ich die Böschung, sah noch einmal nach beiden Seiten und bewegte mich auf die Brücke zu. Ich war nicht sehr weit von der Stelle entfernt, an der sie sich über die Geleise spannte – zwanzig, vielleicht dreißig Yards. Weniger als eine Sekunde, bei der Geschwindigkeit, die der Zug gehabt hatte. Der Gedanke ließ mich frösteln. Eine Sekunde... Wenn ich auch nur um eine Winzigkeit zu spät reagiert hätte...
Mein Blick tastete über das regennasse Gras der Böschung, fand einen niedergewalzten Busch und folgte der Spur aus aufgewühltem Erdreich und entwurzelten Sträuchern, die sich fast zwanzig Schritt weit die Böschung hinabzog. Einen Moment lang ergriff mich eine fast absurde Angst, daß sich die Böschung bewegen und Eisenzahn in alter Mordlust auftauchen könnte, aber ich vertrieb den Gedanken und nannte mich im stillen einen Narren. Alles, was ich finden würde, war eine Leiche.
Trotzdem zögerte ich noch, von den Bahngeleisen hinunterzutreten und Eisenzahns Körper zu suchen. Allein der Gedanke an den Anblick, den sein Leichnam bieten mußte, drehte mir schier den Magen herum. Aber dann verscheuchte ich auch diese Vorstellung, ging die Böschung hinab und folgte der Spur. Der Boden war fast handtief aufgerissen, wie von einer gewaltigen Egge umgepflügt, Gras und kleinere Büsche glattweg abgeschnitten und selbst ein junger Baum, der fast die Stärke meines Handgelenkes hatte, abgebrochen, als wäre ein Meteor vom Himmel gestürzt. Überall lagen Fetzen von Kleidern, zerborstenes Metall, und Dinge, die derart zusammengestaucht und zerstört waren, daß ich ihre ursprüngliche Bestimmung nicht einmal zu erraten wagte. Dann fand ich einen Schuh, der wie von einer Kreissäge halbiert worden war. Schließlich eine ganze Ansammlung kleiner, bis zur Unkenntlichkeit verbeulter Metallgegenstände. Schließlich endete die Spur am Ufer eines schmalen, aber allem Augenschein nach reißenden Flüßchens, das sich parallel zum Bahndamm dahinzog.
Was ich nicht fand, war Eisenzahn.
Zwei-, dreimal hintereinander suchte ich den Bahndamm rechts und links der gewaltigen Schleifspur ab, zuerst flüchtig und in aller Hast, dann gründlicher. Aber das Ergebnis war jedes Mal das gleiche: die Schleifspur endete nach einer Strecke von mehr als dreißig Yards im Uferschlamm des Flusses, aber dort, wo der zerschmetterte Leichnam meines Gegners liegen sollte, war nichts.
Sekundenlang stand ich wie versteinert da und starrte die Stelle an, an der er hätte liegen müssen. Die logischste Erklärung war, daß ihn die Wucht des Sturzes bis in den Fluß geschleudert hatte, wo ihn die Strömung davontrug; aber irgend etwas sagte mir, daß es nicht so war, und daß ich gut daran tat, mich trotz allem in acht zu nehmen.
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