Der Hexer - NR11 - Engel des Bösen
Himmel.
Ein richtiger, normaler Himmel, dunkel bewölkt und vom zerbrochenen Sternendiadem der Milchstraße beherrscht. Kalter Wind schlug mir ins Gesicht. Ein Gefühl unglaublicher Erleichterung machte sich in mir breit. Ich wußte nicht, wo wir waren, aber das spielte auch keine Rolle. Die Höhle, der Obelisk und das schreckliche saugende Nichts waren verschwunden, das war alles, was wichtig war.
Der Gedanke führte einen anderen im Gefolge. Ich setzte mich auf, lauschte einen Moment in mich hinein, um mich davon zu überzeugen, daß ich nicht ernsthaft verletzt war, dann öffnete ich die Augen und sah mich neugierig um.
Dicht neben der Stelle, an der ich erwacht war, erhob sich ein vom Alter zerfressener, mannshoher Stein, in dessen oberes Drittel Zahlen, ein Namenszug und ein Kreuz eingemeißelt worden waren. Dahinter, in der herrschenden Dunkelheit nurmehr als Schatten erkennbar, erhob sich ein wuchtiger, an einen Sarkophag erinnernder Block. Dahinter weitere Steine, Kreuze, Skulpturen. Ein Friedhof.
So morbide mir der Anblick vorkam, paßte er doch irgendwie zu dem, was wir erlebt hatten.
Ich richtete mich ganz auf, sah mich suchend um und gewahrte einen verkrümmten Körper, wenige Schritte neben mir. Rasch eilte ich hin und kniete nieder.
Es war Lady Audley. Sie lag in unnatürlicher Haltung da, das Gesicht eine Maske des Schmerzes, aber mit offenen Augen und bei klarem Bewußtsein. Als sie mich erkannte, versuchte sie sogar zu lächeln.
»Sprechen Sie nicht, Lady Audley«, sagte ich hastig. »Es ist alles in Ordnung.«
Mühsam bewegte sie die Lippen. Ich mußte mein Ohr ganz dicht an ihren Mund heranbringen, um die geflüsterten Worte überhaupt zu verstehen. »Sind wir... in Sicherheit?«
Ich nickte. »Wir sind in Sicherheit.«
Ich war nicht so ganz von meinen Worten überzeugt, aber meine Erleichterung, Lady Audley am Leben und sogar bei Bewußtsein zu finden, überstieg für den Moment jedes andere Gefühl. »Versuchen Sie, stillzuliegen«, sagte ich. »Ich werde mich umsehen und Hilfe holen.«
Ich wollte aufstehen, aber Lady Audley hob die Hand, umklammerte meine Finger und hielt mich mit verzweifelter Kraft fest. Die Berührung ihrer Haut war wie Eis. Ich schauderte.
»Es tut... so weh«, flüsterte sie. »Bitte, Robert... gehen Sie... nicht weg.«
Ich zögerte einen Moment, dann kniete ich abermals nieder, legte die Hand auf ihre Stirn und lauschte in sie hinein.
Was ich spürte, war ein so grenzenloser Schmerz, daß ich unwillkürlich aufstöhnte. Alles in ihr war Verzweiflung und Pein – und der übermächtige Wunsch, zu leben.
So vorsichtig, wie ich nur konnte, griff ich nach ihrem Geist, blockierte den Teil davon, der für den Schmerz zuständig war, und versuchte gleichzeitig, ihr Kraft zu geben.
Lady Audley schloß mit einem erleichterten Seufzer die Augen. »Danke, Robert«, flüsterte sie. »Ich... dachte, ich würde es nicht mehr aushalten.«
»Es wird nicht lange wirken«, sagte ich besorgt. »Der Schmerz wird wiederkommen, Mylady. Aber Sie müssen ihn ertragen. Sie werden leben.«
Lady Audley schluckte schwer. »Wo ist... Shadow?« fragte sie. »Sie ist doch mitgekommen, oder?«
Ich erschrak, als ich begriff, daß sie wußte, was geschehen war. Ich hatte ihre Anwesenheit gespürt, als ich zusammen mit Shadow durch diese schreckliche Leere geglitten war, aber ich hatte nicht geglaubt, daß sie Zeuge unseres Gespräches geworden wäre.
»Ich werde nach ihr suchen«, versprach ich. »Aber zuerst muß ich Hilfe herbeiholen. Sie brauchen einen Arzt.«
Lady Audley schüttelte den Kopf und hielt meine Hand noch fester. »Suchen Sie... Shadow, Robert«, flehte sie. »Bitte, es ist... wichtig. Ich spüre es.«
Einen Moment lang sah ich sie ernst an, dann nickte ich, löste behutsam ihre Finger aus den meinen und drehte mich herum. Ein sonderbares, eigentlich vollkommen unbegründetes Gefühl der Bedrückung machte sich in mir breit, als mein Blick über den dunklen, leeren Friedhof glitt. Irgend etwas Böses schien in den Schatten zu lauern. Ich wußte nur nicht, was.
Ein dunkler Umriß weit entfernt im Westen bannte meinen Blick. Im blassen Licht der Mondsichel sah er aus wie die Ruine einer mittelalterlichen Burg; mächtig und wuchtig thronte er auf einem sanft ansteigenden, kuppelförmig gewölbten Hügel, noch schwärzer als die Nacht und auf stumme Weise drohend. Ich war überzeugt davon, daß er kein Teil der Friedhofsanlage war. Er war auch zu weit entfernt.
Ich drehte
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