Der Hexer - NR26 - Die Gruft der weissen Götter
vor Augen; sein dröhnender Herzschlag war das einzige Geräusch, das er bewußt wahrnahm.
Der Kristall! Er mußte den Kristall erreichen! Der Schmerz in seinem rechten Arm war kaum noch zu ertragen, trotzdem schob er sich vorwärts, Stück für Stück, bis er den unteren Rand der Bank erreichte. Sein Blick blieb auf dem Kristall haften. Er wußte, daß er sich seiner Macht stellen mußte, wollte er sein Vorhaben ausführen.
Mit all seiner Verzweiflung stemmte er sich gegen die Schmerzen, die ihn durchfluteten. Seine fast vollständig gelähmte Hand kroch weiter, Zentimeter für Zentimeter. Wie ein eigenständiges Lebewesen, das von der magischen Macht unberührt blieb, schob sie sich auf den Kristall zu.
Dann hatte sie ihn erreicht. Seine Finger stießen gegen das kühle, glitzernde Ding.
Und in ihm schien eine Sonne zu explodieren. Ein Gefühl unglaublicher Wärme durchflutete ihn, vertrieb die Schmerzen und legte sich wie ein erstickender Mantel über sein Denken. Von seinen Lippen kam ein stummer Schrei. Einen schrecklichen Moment lang hatte er das Gefühl, mit dem Kristall zu verschmelzen, in seiner Kraft aufzugehen.
Dann war es vorbei.
Schlagartig erlosch das Wärmegefühl, und zurück blieb nichts weiter als ein Kribbeln in den Fingern. Ein paar Sekunden blieb er liegen, zu benommen, um zu begreifen, daß er den Kristall in den Händen hielt und immer noch lebte. Er zog den kalten Stein näher an sich heran, winkelte die Beine an und stemmte sich vorsichtig hoch. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Auf dem Boden und der Bank lagen Männer, wie hingefällt.
Einige von ihnen bluteten aus mehreren Wunden, trotzdem konnte er nicht glauben, daß sie tot waren. Es war einfach unmöglich, daß sie sich alle gegenseitig umgebracht hatten.
Dann entdeckte er Erik. Der Jarl war genauso hingestreckt wie die anderen. Sein Oberkörper hing halb über der Bank, das Gesicht spiegelte Verwunderung, sein Mund stand halb offen. Seine Kleidung war unversehrt, nirgends Blut. Es sah fast aus, als sei er nach einem arbeitsreichen Tag auf der Bank eingeschlafen und im Laufe der Zeit halb von ihr heruntergerutscht. Doch Swen wußte, daß er nie mehr aufwachen würde.
»Das wirst du mir büßen, Skallagrim«, flüsterte er. Er unterdrückte den Impuls, zu Erik zu eilen und ihn zu untersuchen. Das ging nicht, nicht mit dem Kristall in der Hand, den er jetzt nicht mehr loslassen durfte. Eine nochmalige Konfrontation mit ihm würde er nicht überstehen. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Der Stein in seiner Hand war trotz seiner Größe sonderbar leicht, schien sich ganz seiner Handfläche anzupassen. Nichts war mehr von seiner magischen Macht zu spüren, doch Swen ahnte, daß das leicht wieder ins Gegenteil umschlagen konnte.
Ein kaltes Frösteln überlief ihn, als er daran dachte, was er da in Händen hielt. Er mußte den Kristall so schnell wie möglich loswerden, aber auf eine Art, mit der Skallagrim mit Sicherheit nicht rechnete. Swen wußte nicht, woher er die plötzliche Gewißheit nahm. Er wußte einfach, was er zu tun hatte. Vielleicht war es der Einfluß des Kristalls, der ein neues Opfer witterte und ihn zum zweiten Mal zum Werkzeug auserkoren hatte. Doch diesmal hatte Swen nichts dagegen, diesmal deckten sich seine Ziele mit der Macht, die hinter dem Kristall stand.
Ohne weiter zu zögern, wandte er sich um, verließ den Ratssaal und wählte den Gang, der nach oben führte. Seine Schritte waren seltsam leicht und unbeschwert. Er nahm kaum etwas von seiner Umgebung wahr, bemerkte nicht die gespenstische, für diese Tageszeit ungewöhnliche Stille. In ihm war nichts mehr als kalte Entschlossenheit, seine Rache zu vollbringen, ein Gefühl, das alle Einwände beiseite wischte.
Er erreichte die Abzweigung zu dem Gang, an dem er patrouilliert hatte und von den Körperlosen zum ersten Mal überrascht worden war. Er hätte nicht sagen können, ob das Stunden oder Tage her war. Wirklichkeit und Visionen hatten sich so stark gemischt, daß ihm jeder Zeitsinn abhanden gekommen war. Er hatte lediglich begriffen, daß er danach nicht etwa einer Ratsversammlung Eriks beigewohnt hatte, sondern einer Verschwörung Skallagrims, die keinen anderen Zweck gehabt hatte, als ihn zu täuschen und als Überbringer des tödlichen Steins zu mißbrauchen. Das Gefühl der Fremdheit, das er bei diesem Auftrag von Erik/Skallagrim gehabt hatte, hatte also zu Recht bestanden.
Um wieviel schrecklicher war jetzt die Gewißheit, daß er
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