Der Hexer - NR28 - Brücke am Ende der Welt
Gestalten. Unter ihnen war nichts, aber sie gingen so ruhig dahin, als liefen sie auf massivem Fels.
Ich versuchte, die Krümmung der abgebrochenen Felsnase in Gedanken fortzusetzen. Es war schwer, weil wir in gerader Linie darunterstanden, aber wenn sich der Winkel wie der eines Brückenbogens fortgesetzt hätte, hätte er genau dort geendet, wo die fünf Gestalten entlanggingen.
»Was, bei Hastur, ist das?« flüsterte Shadow neben mir.
Es fiel mir schwer zu antworten. Meine eigene Stimme klang wie böser Hohn in meinen Ohren; als ich die Hand hob und auf die weißgekleideten Gestalten der Tempelritter über uns deutete.
»Das, wovon du gerade gesprochen hast, Shadow«, sagte ich. »Die Brücke. Der Weg zu Necrons Drachenburg.«
* * *
Der Wind war zu einem brüllenden, glühendheißen Sturm angewachsen, so daß Reynaud de Maizieres all seine Kraft und Konzentration brauchte, auf dem spiegelglatten Untergrund der Brücke nicht den Halt zu verlieren und einfach wie ein trockenes Blatt davongeweht zu werden.
Vielleicht war es das, was ihm das Leben gerettet hatte.
Vielleicht waren es auch seine Gebete. Vielleicht beides.
Reynaud verschwendete keinen Gedanken mehr an die Frage, sondern konzentrierte jedes bißchen Kraft, das er noch aufbringen konnte, darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sich schräg gegen den Wind zu stemmen und einfach zu gehen. Über massiven, harten Untergrund zu gehen, über Fels, dessen Härte er durch die Stiefelsohlen spürte, der den Wind brach, so daß er heulte und wimmerte wie eine Meute unsichtbarer Wölfe, der da war, so massiv und kompakt wie ein Stück Felsen nur sein konnte.
Reynaud de Maizieres konzentrierte sich auf jede noch so winzige Einzelheit, ertastete mit halb geschlossenen Augen jede mikroskopisch feine Unebenheit der kühn geschwungenen Brücke, jede rauhe Stelle, jeden haarfeinen Riß im Stein, klammerte sich an jeden Schatten, jede Lichtspiegelung auf dem glattpolierten Felsen, alles, was sein Denken davon überzeugen konnte, daß dieser Fels wirklich da war, und nicht nur ein Trugbild.
Eine Ewigkeit – die in Wahrheit sicher nicht mehr als zehn, allerhöchstens fünfzehn Minuten andauerte – schleppte er sich so über den schmalen Felsbuckel. Der wogende Schatten am Ende dieser Wahnsinnsbrücke wuchs allmählich heran, wurde jedoch nicht deutlicher. Nach einer Weile bemerkte er, daß sich die Brücke wie ein bizarrer Viadukt wieder nach unten zu neigen begann, und schon wenige Augenblicke später begann ein gewaltiger Felspfeiler aus der nebeligen Entfernung heranzuwachsen.
Instinktiv beschleunigte Reynaud de Maizieres seine Schritte. Nichts sprach dafür, daß dieser Felspfeiler in irgendeiner Form realer sein sollte als die Brücke, über die er ging, aber allein die Illusion, daß er mit dem Boden verbunden war, daß unter ihm irgend etwas war außer saugender Leere, erschien ihm wie eine Erlösung.
Als sie näherkamen, sah Reynaud, daß der Pfeiler nicht leer war. Der schmale Steg, der in kühnem Bogen zu ihm hinführte, verbreiterte sich zu einer runden, vielleicht fünfzig Schritte messenden Plattform, an deren beiden äußeren Enden zwei bizarr geformte Türmchen standen. Der Anblick erinnerte Reynaud de Maizieres auf unangenehme Weise an ein Bollwerk. Etwas an ihm war aggressiv, auf schwer in Worte zu fassende Weise.
Und es war nicht nur ein Gefühl. Die kleine Gruppe erreichte das felsige Rund und hielt an, aber kaum hatte der erste Mann den Stein der schimmernden Plattform betreten, da öffneten sich kleine Tore in den Türmen, und etwas wie ein wirbelnder Schatten huschte hinaus.
Reynaud de Maizieres blieb verblüfft stehen. Im ersten Moment war er nicht sicher, ob er wirklich etwas sah, oder ob ihm seine überreizten Nerven schlicht und einfach einen Streich spielten, aber dann kamen die Schatten näher, mit sonderbar gleitenden, flatternden Bewegungen. Ein Splitter von Rot blitzte im wirbelnden Grau auf. Für Bruchteile von Sekunden glaubte Reynaud ein verzerrtes Gesicht zu sehen; eine teuflische Fratze, schmal, rot, gehörnt und mit einem höhnisch verzerrten, dreieckigen Insektenmaul statt eines Mundes. Ein mannslanger Schweif peitschte. Die Luft stank nach Schwefel.
Mit aller Kraft verscheuchte Reynaud de Maizieres die Vorstellung, und im gleichen Moment wurde der Schatten wieder zu einem flackernden, grauen Schemen mit den ungefähren Formen eines menschlichen Körpers. Nur größer. Und irgendwie drohender.
Lautlos trieben
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