Der Hexer - NR32 - Der Koloss von New York
stehen, selbst als der Koloß schon längst verschwunden war. Erst dann wandte sie sich ganz langsam um, machte einen Schritt – und blieb abermals stehen. Ganz langsam drehte sie den Kopf, blickte in Rosenbergs Richtung und hob die rechte Hand. »Komm her«, sagte sie.
Es war wie ein Hieb. Rosenberg spürte, wie die Angst, die ihn bisher gelähmt hatte, etwas Stärkerem, Fürchterlichem wich, für das er keine Worte hatte. Er wollte schreien, herumfahren und seine Lampe davonschleudern und zum Strand hinunterrennen, um sich kopfüber ins Wasser zu werfen und davonzuschwimmen, ungeachtet des schwarzen Kolosses, der irgendwo dort draußen im Nebel lauerte, und ungeachtet der Tatsache, daß die Entfernung zum Ufer zum Schwimmen viel zu weit war. Aber selbst der sichere Tod schien ihm noch besser, als dem Klang dieser entsetzlichen Stimme zu gehorchen.
Aber er tat nichts von alledem. Statt dessen ließ er seine Lampe fallen, trat mit einem unsicheren Schritt aus dem Nebel heraus und begann auf die junge Frau zuzugehen. Plötzlich begriff er, daß sie die ganze Zeit über gewußt haben mußte, daß er da war.
Und daß er vom ersten Moment an keine Chance gehabt hatte.
Irgend etwas Entsetzliches würde geschehen, wenn er das Mädchen erreichte. Etwas, das schlimmer, viel viel schlimmer als der Tod war. Und trotzdem war es ihm unmöglich, stehenzubleiben. Mit ruhigen, gemessenen Schritten ging er weiter, bis er nur noch zwei Schritte von dem Mädchen entfernt war.
»Komm«, sagte sie noch einmal. Sie lächelte.
Dann wandte sie sich um und trat in das grüne Leuchten hinein, das das Innere der Statue ausfüllte. Rosenberg folgte ihr.
* * *
Es war sonderbar – hinter uns lag die Stadt, die selbst um diese nächtliche Stunde noch ein Lichtermeer war, und der Mond stand zwar nicht voll, aber doch deutlich sichtbar an einem wolkenlosen Himmel. Aber über dem Strand lag eine schon fast unheimliche Finsternis; eine Schwärze, die allein mit der Nacht und dem leisen Hauch von Nebel, der auf dem Wasser lag, kaum mehr zu erklären war. Außerdem war es kalt. Ganz ekelhaft kalt.
Nun, was das anging, mochte es durchaus sein, daß mich nur mein Körper auf diese Weise daran erinnerte, daß es mittlerweile deutlich auf fünf Uhr morgens zuging und ich einen reichlich strapaziösen Tag hinter mir hatte. Und die scheinbar so unnatürliche Finsternis mochte nichts anderes sein als eine kleine Bosheit meines Unterbewußtseins, mit der es die Furcht ausdrückte, die sich darin eingenistet hatte.
Oder war es einfach kalt und dunkel, und ich hatte mich in den letzten Monaten so daran gewöhnt, um mindestens drei Ecken zu denken, daß ich schon gar nicht mehr anders konnte, als in alles und jedes finstere Geheimnisse hineinzudeuten. Was die wahrscheinlichste Erklärung war.
Ich verscheuchte den Gedanken und schritt kräftiger aus, um zu Mel aufzuschließen, der ein Stück vorausgegangen war und immer wieder in der Dunkelheit zu verschwinden drohte. Obwohl er das Knirschen meiner Schritte auf dem groben Sandstrand deutlich hören mußte, tat er so, als bemerkte er es nicht. Selbst als ich neben ihm angelangt war, starrte er weiter stur geradeaus.
»Einen Penny für deine Gedanken, Mel«, sagte ich lächelnd.
Er bequemte sich jetzt doch, mich anzusehen, blieb aber vollkommen ernst. Seit wir die Gasse, in der Nick gestorben war, verlassen hatten, hatte er kein Wort mehr geredet; weder mit mir noch mit Howard und Rowlf, die jetzt drei Schritte hinter uns gingen. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn selbst nach dem wenigen, was ich ihm notgedrungen hatte anvertrauen müssen, gab es für einen Mann wie ihn wohl nur zwei Möglichkeiten – die eine war, daß er sich von Howard und mir gehörig auf den Arm genommen fühlte, und die andere, daß sein gesamtes Weltbild zusammenzubrechen begann. Keine dieser beiden Alternativen konnte ein sehr angenehmes Gefühl sein. Das hieß – es gab noch eine dritte Möglichkeit: nämlich die, daß er Howard, Rowlf und mich für total meschugge hielt.
»Spielt es eine Rolle, was ich denke?« fragte er schließlich, als ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechnete. »Ich tue, was du willst. Wir sind gleich da.«
Unwillkürlich sah ich auf, erkannte aber nicht mehr als einen flachen, im blassen Licht der Nacht weiß aussehenden Sandstrand, auf den Nebel hinauf gekrochen war, so daß der Blick nur wenige Dutzend Schritte weit reichte.
»Es ist mir wichtig, daß du mir glaubst,
Weitere Kostenlose Bücher