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Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London

Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London

Titel: Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verschiedene
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versuchte, ein kleines Nickerchen zu machen. Aber auch das wollte mir nicht so recht gelingen. Schuld daran war diesmal allerdings nicht Baskerville, sondern mein Gegenüber, der Mann mit der Adlernase. Ich hatte das Gefühl, von ihm beobachtet zu werden. Und als ich die Augen aufschlug, fand ich meine Vermutung bestätigt. Der Mann sah mich eindringlich an, nicht penetrant starrend, wie ich es im Harvey’s bei Baskerville getan hatte, sondern mehr so, wie man ein interessantes Studienobjekt betrachtete. Als sich unsere Blicke begegneten, setzte er sich auf.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht noch mehr beunruhigen als Sie es bereits sind.«
    »Woher wollen Sie wissen, ob ich beunruhigt bin?« fragte ich leicht verblüfft.
    »Oh, ich weiß noch bedeutend mehr von Ihnen, mein Herr«, entgegnete er mit einem freundlichen Lächeln. Eigentlich war ich nicht zu einer belanglosen Plauderei aufgelegt, aber der Fremde hatte meine Neugierde geweckt. Außerdem war es vielleicht nicht falsch, wenn ich mich ein wenig unterhielt. So konnte ich mich wenigstens für ein Weilchen von dem unseligen Henry Baskerville ablenken.
    »Schön«, erwiderte ich, »darf ich vielleicht fragen, was Sie denn von mir zu wissen glauben?«
    Er lächelte noch immer. »Auf den ersten Blick scheinen Sie ein wohlhabender und, mit Verlaub, etwas eitler Geck zu sein. Die gefärbte Strähne in ihrem Haar – eine Modetorheit. Ihr maßgeschneiderter Anzug, der Spazierstock – ein britischer Gentleman aus den Kreisen der besten Gesellschaft.«
    »Haha«, machte ich. Mit seinem »Wissen« war es wohl doch nicht so weit her.
    »Alles falsch, abgesehen davon, daß Sie in der Tat wohlhabend sind, nicht wahr?« fuhr er fort. »Aber ich sagte es ja: Auf den ersten Blick erwecken Sie diesen Eindruck. Ein zweiter, aufmerksamer Blick widerlegt die schnell gefaßte Meinung jedoch sehr bald.«
    »Was Sie nicht sagen!«
    Der Mann sprach nicht sofort weiter. Statt dessen holte er sein Rauchzeug hervor und zündete sich in aller Seelenruhe eine prächtige Pfeife an. Erst nachdem er ihr einige graublaue Rauchschwaden entlockt hatte, fuhr er mit seiner Analyse meiner Person fort.
    »Zunächst einmal«, sagte er, »sind Sie gar kein Engländer, sondern Amerikaner. Sie stammen aus New York oder haben zumindest den größten Teil Ihres Lebens dort zugebracht. Sie sind oft auf Reisen, gut zu Fuß und lieben das Abenteuer. Oder vielmehr: Sie fürchten es, denn Sie haben gelernt, stets auf der Hut zu sein und drohenden Gefahren gut vorbereitet entgegenzutreten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde tragen Sie auch eine Waffe bei sich. An Modetorheiten sind Sie gänzlich uninteressiert – die weiße Haarsträhne ist nicht das Werk eines Coiffeurs, sondern rührt vielmehr von einer Verletzung her. Sie sind ziemlich belesen, bevorzugen jedoch Bücher, auch wenn Sie sich soeben – ziemlich unkonzentriert übrigens – mit dem Wirtschaftsteil der TIMES beschäftigt haben. Sie sind Nichtraucher, befinden sich aber häufig in Gesellschaft eines Freundes, der starker Zigarrenraucher ist, was Sie zweifellos des öfteren gegen den Ärmsten aufbringt. Habe ich noch etwas vergessen? Ach ja, Ihr Vorname ist Robert. Richtig?«
    Es war ihm voll und ganz gelungen, mich in fassungsloses Erstaunen zu versetzen. Niemals zuvor war mir ein Fremder begegnet, der so viel über mich wußte. Oder war ich für ihn vielleicht gar kein Fremder? Hatte er, aus welchem Grund auch immer, Erkundigungen über mich eingezogen? War unser Zusammentreffen in diesem Zugabteil gar kein Zufall, wie ich angenommen hatte?
    »Glauben Sie mir«, sagte er, »Sie waren mir bis zum heutigen Tage völlig unbekannt.«
    Ich starrte ihn an. »Können Sie Gedanken lesen?«
    »Leider nicht«, lächelte er. »Das könnte vieles vereinfachen. Ihre augenblicklichen Gedanken zu erraten, war allerdings nicht sonderlich schwer. Sie standen Ihnen sozusagen auf der Stirn geschrieben.«
    »Und all das andere? Ich meine, wie konnten Sie –«
    »Alles eine Frage der Beobachtung und der logischen Schlußfolgerung, mein Freund.« Genüßlich zog er an seiner Pfeife. »Daß Sie nicht aus England stammen können, verrät allein schon Ihr Akzent – eine eindeutig New Yorker Klangfärbung für diejenigen, die sich wie ich ein wenig mit Sprachen und Dialekten befaßt haben.«
    »Gut, gut«, sagte ich, »daß ein Akzent vieles aussagen kann, vermag ich ja noch einzusehen. Aber woher wußten Sie zum Beispiel, daß ich oft auf

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