Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
Reisen bin? Ich könnte ja auch schon vor Jahren von New York nach London übersiedelt sein und dort ganz zurückgezogen leben.«
»Nein«, sagte er bestimmt. »Man braucht nur Ihre Schuhe zu betrachten. Sie sind noch recht neu, an den Seiten aber bereits stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie gehen also viel zu Fuß und sind gewiß alles andere als ein Stubenhocker. Für Ihre Reiselust sprechen mehrere Indizien. Ihre gebräunte Haut etwa, die Sie bestimmt nicht im berühmt-berüchtigten Londoner Wetter gewonnen haben. Dann sehe ich weiße Flecken unter den Kuppen Ihrer Fingernägel – ohne Zweifel Vitaminmangel, ein häufiges Übel bei längeren Reisen. Ihr Bart ist nicht sauber ausrasiert. Ich vermute, Sie tragen ihn nicht, weil Sie besonders anziehend auf die Damenwelt wirken wollen, sondern der Einfachkeit halber – weil er praktisch auf Reisen ist.«
Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand durch den Bart und bestätigte meinem Gegenüber damit mehr oder weniger, daß er auch in diesem Punkt völlig recht hatte.
»Und eitel sind Sie nun wirklich nicht«, fuhr er ohne Pause fort. »Ihr Anzug ist zwar maßgeschneidert, aber mindestens zwei Jahre alt. Ein Modenarr würde ihn schon seit längerer Zeit nicht mehr tragen.«
»Wie sind Sie darauf gekommen, daß ich ein abenteuerliches Leben führe? Daß ich ständig vor Gefahren auf der Hut sein muß?« wollte ich wissen.
»Nun, Ihre Art sich zu bewegen, verrät fortwährende Anspannung, ja sogar eine Spur von Furcht. Mir scheint, Sie werden verfolgt und oftmals in Kämpfe verwickelt. Ihre Hände sind vernarbt, die Nägel weisen Kratzer auf. Und dann wäre da auch noch die Waffe, die Sie mit sich führen. Ihr Stock ist mehr als ein einfacher Spazierstock, habe ich recht? Er ist alt und mit Kerben übersät, was so gar nicht zu ihrem ansonsten sehr gepflegten Erscheinungsbild passen will. Da er nicht wertvoll genug ist, um ein altehrwürdiges, kostbares Erbstück zu sein, kann er folgerichtig nur einen nützlichen Zweck erfüllen. Oben am Knauf ist das Holz des Stocks blankgescheuert – ein Merkmal, das sich auch an Ihrem Gürtel findet, genau an der Stelle, wo Sie ihn wohl des öfteren zu tragen pflegen. Ein ungewöhnlicher Platz für einen Spazierstock, nicht jedoch für den Degen, der sich zweifellos in ihm verbirgt. Und um die Beweiskette für ihr gefährliches Leben abzuschließen, will ich noch die kleine Narbe erwähnen, die sie unmittelbar unterhalb des Haaransatzes tragen, und die vermutlich auch für die weiße Strähne verantwortlich zeichnet.«
»Erstaunlich«, sagte ich. Zu mehr als diesem einen Wort reichte es nicht – ich war schlichtweg überwältigt.
Er nahm meine Äußerung als Bestätigung seiner Theorie und berechtigterweise auch als Kompliment. Sein Lächeln wirkte ausgesprochen selbstzufrieden und reizte mich, ihm zu widersprechen. Nicht, weil er etwa etwas Falsches gesagt hätte, sondern nur, um seiner Selbstgefälligkeit einen kleinen Dämpfer zu versetzen.
»Was meine Lektüre angeht, liegen Sie ziemlich daneben«, sagte ich. »Ich lese mindestens ebensoviel Zeitungen wie Bücher.«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, entlarvte er mich sofort. »Wäre dem so, hätte die frische Druckerschwärze an allen Ihren Fingern bleibende Spuren hinterlassen. Dies ist jedoch nur bei Daumen und Zeigefinger Ihrer rechten Hand der Fall, wie Sie sich unschwer selbst überzeugen können.«
»Sie sind wirklich nur schwer hinters Licht zu führen«, mußte ich widerwillig zugeben. »Wie haben Sie herausgefunden, daß ich einen Freund habe, den ich wegen seiner elenden Qualmerei wirklich manchmal in den tiefsten Schlund der Hölle wünsche?«
»Wären Sie selbst Raucher, hätte ich Nikotinspuren an Ihren Fingern und Zähnen bemerken müssen. Aber nur Ihre Kleidung hat den Geruch von Tabak angenommen – das typische Virginia-Aroma amerikanischer Zigarren. Und wenn man weiß, welche Rauchkonzentration nötig ist, um sich derart in der Kleidung festzusetzen, dann kann man ohne Zögern davon ausgehen, daß Sie sich als Nichtraucher vom übermäßigen Tabakkonsum Ihres Freunds belästigt fühlen. Sie sehen, es ist alles elementar einfach – pure Logik!«
»Wieso ist es logisch, daß ich Robert heiße?« sagte ich beinahe ärgerlich.
»Dann stimmt es also?« In seiner Stimme klang jetzt Freude mit. »Ich muß zugeben, daß ich mich in dieser Beziehung mehr auf Spekulationen denn auf Tatsachen gestützt habe. Ihre Krawattennadel zeigt die Initialen ›RC‹ –
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