Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
unterdrücken. Sollte er tatsächlich auf Seiden gestoßen sein? Nur das nicht! flehte er im stillen.
Doch als er den Felsen dann erreichte, stellte Calhoun zu seiner Erleichterung fest, daß es sich keineswegs um den Verbrecher handelte. Es waren lediglich zwei Sumpfenten, die träge zum nächsten Wasserloch hinüberflatterten. Gedankenverloren blickte Calhoun den Vögeln nach – und sah, wie sie plötzlich, als sie über der schwarzen Wasseroberfläche schwebten, steil in die Höhe schossen und dabei die eigenartigsten Laute von sich gaben. Augenblicke später waren sie seinen Blicken entschwunden.
Fast gleichzeitig nahm er noch etwas wahr: Spuren eines widerwärtigen Gestanks, der auf einmal die Luft schwängerte.
Er stutzte. Hatten nicht Dr. Mortimer und der neue Herr von Baskerville Hall irgend etwas von einem bestialischen Gestank erzählt, der ihnen beim Auffinden von Frederic Murphys Leichnam untergekommen war? Sollte es hier etwa einen Zusammenhang geben?
Vincent Calhoun war sich nicht sicher, ob er einer solchen Spekulation wirklich auf den Grund gehen wollte. Murphy war eines unheimlichen Todes gestorben, das stand fest, und Calhoun hatte nicht die Absicht, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Dennoch – wenn er auch nur ein einfacher Dorfpolizist war, so konnte er sich von einem gewissen kriminalistischen Ehrgeiz nicht freisprechen. Deshalb entschloß er sich, vorsichtig, ganz vorsichtig, näher auf das Wasserloch zuzugehen.
Ja, seine Nase hatte sich nicht getäuscht. Der Gestank, faulig und penetrant, wurde intensiver, je dichter er an das Wasser herankam. In etwa zehn Meter Entfernung – noch hatte er festen Boden unter den Füßen – blieb er stehen. Angestrengt blickte er über die Oberfläche des Sumpfes hinweg, deren normale Schwärze von der Nachmittagssonne golden gefärbt wurde.
Obgleich – abgesehen von dem Gestank – nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen war, fröstelte es ihn plötzlich. Lag es an der unbestimmten Furcht, die er mit einem Male verspürte, oder war es auf unerklärliche Weise wirklich kälter geworden?
Wohl von beidem etwas, erkannte er mit wachsendem Schrecken, und die vagen Angstgefühle wurden stärker und stärker. Weg hier! rief ihm eine innere Stimme zu. Nichts wie weg! Aber es war bereits zu spät. Es gab kein Entkommen mehr für Constable Vincent Calhoun.
Die Wasseroberfläche explodierte. Ein animalisches, unglaublich böses Brüllen zerriß die Stille, und aus dem Wasserloch erhob sich das Gestalt gewordene Grauen.
* * *
Während der restlichen Fahrtdauer führte ich eine insgesamt doch recht angeregte Unterhaltung mit meinen neuen Bekannten. Dr. Watson, der Freund und Helfer des Detektivs, entpuppte sich als ein Mann, der – meiner anfänglichen Befürchtung zuwider – doch des Sprechens mächtig war. Er verstand es sogar, wirklich amüsant zu plaudern, und bestritt den größten Teil der Konversation. Sherlock Holmes beteiligte sich nur gelegentlich daran; ich vermute, daß er angestrengt darüber nachgrübelte, wieso ich, ein gänzlich Fremder, so gut über ihn Bescheid gewußt hatte. Weitere persönliche Dinge kamen nicht zur Sprache. Ich verspürte keinerlei Neigung, die beiden Männer mit meinen persönlichen Problemen vertraut zu machen, mochten diese nun die GROSSEN ALTEN oder Sir Henry Baskerville betreffen.
Schließlich hielt der Zug in Coombe Tracey, wo sowohl ich als auch Holmes und Watson ausstiegen. Auf dem Bahnsteig verabschiedete ich mich von den beiden und suchte sodann einen der Gasthöfe des kleinen Städtchens auf.
Nach wie vor war ich mir über die Gründe für mein merkwürdiges Interesse an Henry Baskerville vollkommen im unklaren. Ich war nach Devonshire gekommen, um ihn auf seinem Landsitz aufzusuchen, natürlich. Nur was ich sagen sollte, wenn ich so unerwartet bei ihm auftauchte, war mir noch nicht eingefallen. Ich hatte vor, in dem Gasthaus noch nähere Informationen über Baskerville einzuholen. Die Einheimischen wußten sicherlich mehr über ihn, als in London in Erfahrung zu bringen gewesen war. Und wenn ich Glück hatte, würde ich dabei sogar eine halbwegs einleuchtende Begründung für meinen Besuch entdecken.
Es erwies sich als überraschend schwierig, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Die Menschen in dieser Gegend waren verschlossen und eigenbrötlerisch. Fremden gegenüber legten sie ein angeborenes Mißtrauen an den Tag. Und gerade ich wirkte offenbar sehr fremd auf sie – und das nicht nur
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