Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
schnell wieder.
»Sie sind schuld«, brüllte er zum Bibliotheksfenster hinauf. »Sie und Ihr ganzes gottverdammtes Baskerville-Geschlecht! Sie und Ihr mörderischer Höllenhund!«
Henry Baskerville tauschte einen schnellen Blick mit Dr. Mortimer und wandte sich dann wieder dem Jungen zu.
»Woran soll ich schuld sein, Bruce?«
»Mein Vater ist... ist verschwunden! Ihr verfluchter Höllenhund hat... hat ihn geholt! Mörder! Verbrecher...«
Die Stimme des Jungen überschlug sich fast, ging dann in ein heftiges Schluchzen über. Augenblicke später weinte er haltlos. Sein magerer Körper zuckte und bot das Bild eines solchen Jammers, daß sich selbst im Inneren eines Uncle Scrooge aufrichtiges Mitleid geregt hätte.
»Warte, Junge, ich komme nach unten«, rief Henry Baskerville und eilte dann gemeinsam mit Dr. Mortimer auf den Schloßhof.
Es war nicht einfach, aus dem Sohn des Schafzüchters herauszuholen, was sich nun tatsächlich ereignet hatte. Sein ungezügelter Zorn hatte sich erschöpft und war kindlicher Verstörtheit und Hilflosigkeit gewichen. Schließlich ergab sich in etwa dieses Bild: Bruce Murphy war gestern abend mit seinem Vater zu einer Moorweide gegangen, um ein verlorengegangenes Schaf zu suchen. Schon auf dem Weg hatten sie das Heulen des »Höllenhundes« gehört, der dann auf der Weide angeblich über den Vater hergefallen war und ihn verschleppt hatte.
Nachdem der Junge mit seinen gestammelten Erklärungen zum Ende gekommen war, gab Dr. Mortimer ein gequältes Ächzen von sich und zog ein überaus ernstes, sorgenvolles Gesicht – sehr zum Ärger des Schloßherrn.
»Sie glauben diesen ganzen Unsinn?« fragte Henry Baskerville mit scharfer Stimme.
»Ich würde nicht von... Unsinn sprechen, Sir Henry«, antwortete der Arzt ausweichend.
Baskerville lachte kurz auf. »Höllenhund? Familienfluch? Lieber Freund, es tut mir leid, aber Sie können doch beim besten Willen nicht Verlagen, daß ich all dies ernst nehme!«
»Ich habe das Heulen des Hundes selbst schon gehört«, sagte Dr. Mortimer. »Und es gibt durchaus glaubhafte Zeugen, die ihn auch gesehen haben. Sie sollten die Angelegenheit wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denken Sie nur an den Tod Ihres Onkels.«
»Onkel Charles war ein alter, herzkranker Mann. Ich bin der Ansicht, daß er eines ganz natürlichen Todes gestorben ist. Und wie Sie wissen, unterscheidet sich diese meine Ansicht nicht von der der Kriminalpolizei.«
»Polizisten glauben nur das, was sie mit den Händen anfassen können. Aber es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde...«
»Geschenkt!« Baskerville machte eine unwirsche, abwehrende Handbewegung und wandte sich dann wieder dem immer noch schluchzenden Jungen zu.
»Bruce, es tut mir leid, daß dein Vater verschwunden ist, aber ich habe nicht das geringste damit zu tun.« Er dachte kurz nach und fuhr fort. »Ich mache dir einen Vorschlag: Wir gehen jetzt gemeinsam noch einmal zu dieser Weide und suchen nach ihm, einverstanden?«
»Wir werden ihn nicht finden«, erwiderte Bruce Murphy hoffnungslos.
»Das sehen wir ja dann. Also?«
Müde nickte der Junge. Von der zornerfüllten Energie, die er vorhin versprüht hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Er war jetzt nur noch ein Kind, das seinen Vater verloren hatte und nicht wußte, wie es mit dieser Situation fertig werden sollte.
»Kommen Sie mit, Doktor?« fragte Baskerville den Arzt.
Als dieser kurzentschlossen nickte, rief der Schloßherr nach seinem arabischen Diener Chalef, der mit ihm nach England gekommen war, und gab Anweisung, die Kutsche anspannen zu lassen.
Wenig später rollte das Gefährt vom Schloßhof, Chalef auf dem Kutschbock, Baskerville, Dr. Mortimer und Bruce Murphy im Fahrgastraum.
Die Fahrt bis zur Bauernkate der Murphys betrug etwa zwanzig Minuten. Von dort aus hieß es, zu Fuß weiterzugehen, denn der Weg zu der Schafweide war mit der Kutsche nicht befahrbar. Als Henry Baskerville vor dem Haus ausstieg, bemerkte er eine Frau mittleren Alters, offenbar die Mutter des jungen Bruce.
Als sie ihn sah, machte sie ein Gesicht, als sei sie dem Teufel höchstpersönlich begegnet, bekreuzigte sich hastig und verschwand beinahe fluchtartig im Haus. Baskerville war sich nicht sicher, ob er über diese Reaktion ärgerlich oder betroffen sein sollte. Der Einfachheit halber beschloß er, den befremdlichen Vorfall schlicht zu ignorieren.
Der Pfad zur Weide führte geradewegs ins Moor hinein, und Henry Baskerville hatte wieder einmal
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