Der Hexer - NR44 - Endstation Hölle
besaß ein Loch, und der Inhalt hatte sich in der Tasche ergossen.
Der Diener achtete nicht darauf. Mit den Fingerspitzen zog er die Hemden auseinander, bekam die Pässe, die Brieftasche steckte er in eine der Innentaschen seines Rockes, denn Mr. Fogg besaß keinen solchen mehr. In Hose und Weste stand er da, mit einem halbärmeligen Hemd. An den Handgelenken baumelten die Manschetten wie abgestorbene Teile seines Körpers, und der Hemdkragen wirkte grotesk und ließ jede Ernsthaftigkeit an diesem Mann vermissen.
Phileas Fogg achtete nicht darauf. Er griff nach einem Unterhemd in der Tasche, klatschte es auf den Stummel des Türgriffes – ein Tritt mit dem Absatz, ein Knirschen im Drehgelenk, und die Tür flog nach außen, schlug mit der Rückseite gegen die Außenwand des Waggons und brach ab. Sie stürzte nach unten und schepperte gegen den steinernen Felsboden, beulte und faltete sich und blieb liegen, während der Zug unbeirrt weiterfuhr.
»Ah!« machte Phileas Fogg. »Es geht nicht mit rechten Dingen zu. Siehst du das?«
Passepartouts Gesicht bildete eine einzige Frage. Der Diener befand sich in einem schwer zu beschreibenden Zustand, in dem er beinahe wie eine Maschine reagierte und sein Verstand sich weigerte, sinnvoll zu arbeiten. Er starrte hinaus auf die zerbeulte Tür unter dem Zug und zuckte mit den Schultern zum Zeichen seiner Ratlosigkeit.
Um den Mund seines Herrn erschien ein feines Lächeln. Er klopfte ihm leicht auf die Schulter.
»Wenn du etwas aus einem fahrenden Zug auf den Bahndamm wirfst, was geschieht dann?« fragte er. Und als Passepartout noch immer keine Antwort gab: »Es fällt hin und bleibt zurück, weil der Zug weiterfährt. Und die Tür? Mein lieber Passepartout, sie müßte längst aus unserem Gesichtsfeld verschwunden sein. Aber sie liegt da unten, und sie tut uns keinen Gefallen, sich an die üblichen Gesetze der Physik zu halten. Was schließen wir daraus?«
Er betrachtete die Schweißperlen, die sich überall im Gesicht des Dieners gebildet hatten. Es war Angstschweiß, und niemand hatte dafür größeres Verständnis als Mr. Fogg. Ihr gemeinsames Problem war lediglich, daß sie keine Zeit besaßen, sich darüber zu unterhalten. Jemand hatte ihnen die Zeit gestohlen, und nicht nur sie, sondern auch die ganze Physik und die Welt, die sie kannten.
»Da draußen ist ein Geländer«, fuhr der Weltreisende fort. »Wir gehen daran entlang nach vorn. Es ist eine winzige Chance, aber vielleicht gelingt es uns, das Unheil aufzuhalten!« Er deutete anklagend in das Abteil hinein, wo es immer stärker brodelte. Die Reisetasche war zu einem kleinen, verklumpten Haufen geworden, der fürchterlich stank, als hätte sich seit Monaten Schmutzwäsche darin befunden.
»Nein!« stöhnte Passepartout. »Hört auf zu phantasieren!« Seit sie sich in diesem Zug befanden, sagte er nicht mehr ›Sie‹ zu seinem Herrn, sondern ›Ihr‹. Es war ein Ausdruck schwindender Achtung und ein Zeichen dafür, daß sie in dieser Situation nicht mehr Herr und Diener waren, eher zwei Gefährten, die auf dieser gefährlichen Reise aufeinander angewiesen waren
»Doch!« beharrte Fogg. Er griff nach den Schultern Passepartouts. Seine schlanken Finger krallten sich in den Stoff des Rockes und rissen den Diener zu sich heran. Der stieß einen Schrei aus, als Mr. Fogg ihn hinaus aus dem Zugabteil und in den Luftraum neben dem Waggon warf. Passepartout krümmte sich, aber er stürzte nicht. Er fiel auf die Knie, verharrte in dieser Haltung und bekam irgend etwas zu fassen, woran er sich hochzog. Er stand hastig auf, blickte aus weit aufgerissenen Augen um sich und dann auf seinen Herrn, der zu ihm hinaustrat und tat, als befände er sich auf einem Schiffsdeck und hätte nichts Besseres zu tun, als die würzige Seeluft zu genießen.
»Halte dich am Geländer fest«, knurrte Fogg. »Und dann folge mir. Wir gehen nach vorn zur Lokomotive!«
»Aber da ist doch gar keine...«, begann der Diener und verstummte bei der Aussichtslosigkeit des Arguments. Er wandte zögernd den Kopf und schaute an den Waggons entlang nach vorn zu dem Ungetüm, das den Zug mit sich riß. Täuschte er sich, oder lief aus den Mundwinkeln des riesigen Sauriers Blut?
Phileas Fogg hatte sich in Bewegung gesetzt. Er schritt auf dem unsichtbaren Steg entlang, und seine rechte Hand lag immer dort, wo das Geländer zu spüren war. In seinem Gang befand sich kein bißchen Unsicherheit; er ging wie jemand, der es gewohnt war, mitten durch die Luft
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