Der Hexer und die Henkerstochter
Sie hatte kein Geräusch gehört, es war mehr eine Ahnung, ein leises Stechen in der Schultergegend. Sie drehte sich in der schmalen Gasse abrupt um. Doch es war bereits zu spät.
Eine haarige Hand legte sich über ihren Mund und zog sie unerbittlich zwischen zwei windschiefe Schuppen. Magdalena zappelte und versuchte zu schreien, aber der Griff des Unbekannten war zu fest. Schließlich gelang es ihr zumindest, ihrem Angreifer kräftig in die Finger zu beißen.
»Autsch!«, erklang eine wohlvertraute tiefe Stimme. »Bist wahnsinnig, dein eigen Fleisch und Blut aufzufressen, du Natter!«
»Himmelherrgott, Vater«, schimpfte Magdalena und entspannte sich, während Jakob Kuisl sie fluchend losließ. »Was musst du mich bloß so erschrecken! Hättest du nicht einfach wie jeder vernünftige Mensch ›Grüß Gott‹ sagen kö nnen?«
»Damit du wild rumschreist und die Leute aus den Fenstern schauen? Red keinen Schmarren, immerhin werd ich …«
»Gesucht«, unterbrach Magdalena ihren Vater. »Ich weiß. Der Semer ist schon ganz heiß drauf, dich in seine Finger zu kriegen.«
»Der Semer?« Jakob Kuisl saugte noch immer an seinem blutenden Finger. »Was hast du denn mit dem Semer zu schaffen?«
Der Henker trug zerschlissene Hosen, einen schlichten schwarzen Rock und den alten Mantel, den Magdalena bereits seit ihrer Kindheit kannte. Lächelnd musste sie daran denken, wie ihr Vater in der zerfransten Franziskanerkutte ausgesehen hatte. Mit seiner breiten Gestalt hatte er wirklich einen guten Mönch abgegeben.
»Karl Semer hat deinem Vetter, dem Graetz, einen Besuch abgestattet«, erwiderte sie schließlich.
»Dem Graetz? Wieso denn das?«
»Wenn du’s wissen willst, dann sei endlich still und hör mir zu.«
Nachdem Magdalena ihrem Vater von dem bedrohlichen Auftritt des Schongauer Bürgermeisters erzählt hatte, schlug Kuisl zornig gegen die Schuppenwand.
»Verflucht, das hat mir grad noch gefehlt!«, polterte er. »Jetzt weiß ich auch, warum die Jäger und ein paar andere Büttel hier durch die Klostergassen schleichen. Der Semer hat ihnen vermutlich eine satte Belohnung versprochen, wenn sie mich erwischen. Aber darauf können ’ s warten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag!« Er sah seine Tochter sorgenvoll an. »Hat dir der Simon schon erzählt, was oben im Kloster vorgefallen ist?«
»Gerade wollt ich zu ihm. Offenbar hat man Virgilius tot aufgefunden. Ist das wahr?«
Der Henker nickte. »Lass uns gemeinsam zu deinem Mann gehen. Wir müssen besprechen, was jetzt zu tun ist. Alles Weitere erzähl ich dir auf dem Weg.«
Unterwegs zum Hospital berichtete Kuisl ihr von dem Fund der Monstranz und dem sterbenden Laurentius.
»Wir können nur hoffen, dass der Pater noch einmal den Mund aufmacht«, sagte der Henker tonlos. »Wenn ihn sich nicht vorher dieser vermaledeite Hexer holt. Bet für deinen Mann, dass er ordentlich Wache hält und nicht eingeschlafen ist. Sonst wird er sich wünschen, nie einen Scharfrichter zum Schwiegervater gehabt zu haben.«
Magdalena nickte und versuchte nicht daran zu denken, was ihr Vater mit den letzten Worten gemeint haben mochte. Sie wusste, dass Jakob Kuisl zu cholerischen Ausbrüchen neigte. Gott sei Dank beruhigte er sich genauso schnell wieder, wie er auffahren konnte.
Sie beschleunigte ihre Schritte, bis endlich das Hospital vor ihnen auftauchte. Der notdürftig umgebaute Pferdestall lag bereits vollständig im Dunkeln, kein Licht drang von drinnen heraus.
»Mir schwant Übles«, knurrte Jakob Kuisl. »Entweder der Simon sieht wie eine Katze oder er ist tatsächlich eingeschlafen, der Schafschädel.«
»Vielleicht war doch alles ein wenig viel für ihn in letzter Zeit«, murmelte Magdalena, der ihr Mann plötzlich leidtat. Warum musste ihr Vater auch immer so streng mit ihm sein!
Ohne ein weiteres Wort zog Kuisl unter seinem Mantel eine Fackel hervor und entzündete sie mit einem mitgebrachten Zunderkästchen. Dann öffnete er lautlos die Tür zum Hospital.
Im Licht der Fackel sah Magdalena schemenhaft die etwa zwei Dutzend Betten, die über den ganzen Raum verteilt waren. In den meisten wälzten sich schlaftrunkene Gestalten, die husteten oder ob der plötzlichen Störung kurz den Kopf hoben, bevor sie wieder auf ihre Schlafstatt zurückfielen. Ziemlich weit vorne erkannte die Henkerstochter ihren Mann. Er kauerte neben einem der Betten auf einem Stuhl; sein Körper war vornübergebeugt, der Brustkorb erzitterte in regelmäßigen Abständen.
Und er
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