Der Hexer und die Henkerstochter
Gelegenheit auch noch einen Blick auf die anderen Kranken. Bei einigen mussten die Wickel gewechselt werden, andere brauchten einen Trank, der sie besser schlafen ließ.
Schlafen …
Trotz der Aufregung spürte Simon mit einem Mal, wie müde er war. Die Ereignisse der letzten Tage, der kranke Grafensohn, der Streit mit Magdalena – all das war ganz offensichtlich zu viel für ihn gewesen. Und jetzt sollte er auch noch auf einen schwerverletzten Mönch aufpassen, der die nächsten Stunden vermutlich ohnehin nicht überleben würde!
Simon rieb sich die Schläfen und setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett von Laurentius. Er griff erneut zu dem kleinen Buch, spürte aber, wie ihm schon nach wenigen Zeilen immer wieder die Augen zufielen. Mühsam richtete er sich in dem ungemütlichen Sessel auf. Durch die kleinen Fensterlöcher und Ritzen in der Holzwand schien ihm die Abendsonne angenehm warm aufs Gesicht. Sein Kopf sackte nach vorne. Nein, er durfte nicht einschlafen, nicht jetzt! Schließlich hatte er es seinem Schwiegervater versprochen. Wo blieb überhaupt Jakob Schreevogl, der ihn vielleicht für ein paar Stunden ablösen konnte? Für Simon schien es bereits Stunden her zu sein, dass er ihn zur Taverne geschickt hatte. Hatte er herausgefunden, worum er ihn gebeten hatte?
Einmal mehr verfluchte sich der Medicus dafür, dass seine so heißgeliebten Kaffeebohnen zur Neige gegangen waren.Beinahe glaubte er, den Duft des gemahlenen schwar zen Pulvers riechen zu können. Er vermischte sich mit dem Gestank nach schmutzigem Stroh zu einem Geruch, der ihn an zu Hause erinnerte. An Schongau im Sommer , wenn die Ähren hoch auf den Feldern standen … Magdalena, seine Kinder … schliefen sie schon? War Magdalena noch immer böse auf ihn? Er musste sich wirklich mehr um sie kümmern. Plötzlich tat es ihm leid, dass er in den letzten Tagen so wenig Zeit für seine Familie aufgebracht hatte. Was hatte dieser Mordfall, was hatten der Sohn des Grafen und all die anderen Kranken eigentlich mit seinem eigenen Leben zu tun? Manchmal kam es ihm vor, als ob er vor lauter Fürsorge, vor lauter Wissbegierde vergaß, was ihm wirklich teuer war.
Simons Kopf fiel nach vorne, und er träumte von seinen beiden kleinen Söhnen, von einem musizierenden Automaten und von einer Burg, die in Flammen und Rauch aufging. Er hörte Kinderlachen und das Rauschen eines fernen Flusses. Sekunden später schlief er wie ein Stein.
So bemerkte er auch nicht die Gestalt, die lautlos die Tür zum Hospital öffnete und mit ausgebreiteten Armen zum Bett des Novizenmeisters schlich. Der Mann lächelte und blickte auf den zusammengesunkenen Medicus, der friedlich vor sich hin schnarchte. Lange hatte er gewartet, er hatte durch eines der Fenster geschaut und darauf gehofft, dass der Medicus irgendwann einschlief.
Nun endlich konnte er seinen Auftrag erfüllen.
Auch Pater Laurentius träumte, und es waren keine schönen Träume. Erneut sah er die bläulichen Flammen, die um seinen Körper züngelten; er roch sein eigenes verbranntes Fleisch. Er hörte die liebliche Melodie des Automaten, die die Begleitmusik zu seinen eigenen Schreien war.
Leise stöhnend warf sich der Mönch in seinem Bett hin und her. Seitdem das Unfassbare geschehen war, dämmerte er zwischen Schlaf und Wachen. In seinen wachen Minuten brandete der Schmerz wie Säure durch seinen Körper, dann kam die gnädige Ohnmacht zurück, wieder gefolgt von kurzen Augenblicken des Bewusstseins. Wie viele Stunden mochten seit jenem Alptraum vergangen sein? Wie viele Tage? Er wusste es nicht. Menschen an seiner Seite kamen und gingen, sie legten kühle Tücher auf seine Wunden und flößten ihm Wein und Wasser ein. Doch jedes Mal, wenn er den Mund öffnen wollte, kam nur ein Röcheln durch seine verbrannte Kehle.
Bis auf ein Mal.
Doch dieser Schongauer Medicus hatte ihn nicht verstanden, er hatte Laurentius’ Worte nicht deuten können. Er erkannte nicht die Gefahr!
Verzweifelt war der Pater gestern durch die Wälder rund um das Kloster gestrichen. Die Angst hatte an ihm genagt, dass ihr gemeinsames Verbrechen nun endlich auffliegen würde. Dieser Golem war wie ein Racheengel, der laut an die Tür seines Gewissens klopfte, immer und immer wieder. Laurentius hatte die Melodie gehört, und er wusste, dass der Automat irgendwo dort unten sein Werk verrichtete. Dieses Wesen würde nicht eher ruhen, als bis jemand nach unten ging, um es in tausend Stücke zu schlagen.
Und dann
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