Der Hexer und die Henkerstochter
Nun wiegte er nachdenklich den Kopf. »In der Andechser Chronik steht, dass die Eroberer nichts fanden, gar nichts«, erwiderte er schließlich. »Erst fast zweihundert Jahre später huschte eine Maus aus einem Loch in der Burgkapelle hervor, in ihrem Maul einen Pergamentfetzen, auf dem einzelne Reliquien verzeichnet waren. So kam man endlich den Heiligtümern auf die Spur.«
»Stimmt«, sagte Magdalena und zog sich fröstelnd ihr Tuch über die Schultern. »Das hat mir auch dieser ekelhafte Pater Eckhart erzählt. Aber warum sollte es noch mehr geben als das, was damals gefunden wurde?«
Simon beugte sich in der Kirchenbank nach vorne. »In der Klosterchronik werden alle Reliquien erwähnt, die in der Heiligen Kapelle aufbewahrt werden«, erklärte er. »Aber auf der Liste des Grafen standen weitaus mehr, darunter auch …«
»Was für eine Liste des Grafen?«, unterbrach ihn Kuisl, der bislang schweigend mit seiner Pfeife im Mund zugehört hatte. »Davon weiß ich ja gar nichts. Hat dir dieser adlige Klugscheißer vielleicht ganz höflich sein Arbeitszimmer gezeigt? Red keinen Schmarren, ich bitt dich!«
»Langsam, langsam. Das Beste hab ich euch ja noch gar nicht erzählt.« Der Medicus hob beschwichtigend die Hände und grinste. Er wusste, dass einer der wesentlichen Charakterzüge des Henkers seine unstillbare Neugierde war. Jetzt war es an Simon, seinen Schwiegervater auf die Folter zu spannen.
»Natürlich hat mir der Graf nicht sein Arbeitszimmer gezeigt«, sagte er schließlich im süffisanten Ton. »Ich hab es mir ohne seine Zustimmung angeschaut. Dabei bin ich eben auf diese Liste und auf einen Plan gestoßen. Einen Plan, der meiner Meinung nach die ehemaligen unterirdischen Gänge und Keller dieser Burg zeigt. Gut möglich, dass es der gleiche Plan ist, der dem Bibliothekar gestohlen wurde. Wir sollten also die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Graf selbst der Hexer ist und er genau wie ein paar der Mönche die verborgenen Schätze sucht.«
Genüsslich bemerkte Simon, wie ihn Jakob Kuisl und Magdalena fassungslos anstarrten.
»Du hast die Zimmer des Grafen durchsucht?«, fragte Magdalena ungläubig. »Aber wenn dich jemand gesehen hätte …«
»Es hat mich aber keiner gesehen«, wiegelte Simon ab, wobei er versuchte, nicht an seinen Ausflug auf den Fenstersims zu denken.
»Und? Wo ist dieser Plan jetzt?«, hakte der Henker nach.
Simons klammheimliche Freude über die Verblüffung seines Schwiegervaters bekam einen herben Dämpfer. »Äh, unglücklicherweise war es mir nicht möglich, ihn mitzunehmen«, erwiderte er. »Aber ich habe ihn mir gut eingeprägt. Vor allem ein paar hingekritzelte Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.« Er konzentrierte sich. » Hic est porta ad loca infera . Das heißt übersetzt …«
»Hier ist die Pforte zu den unterirdischen Orten«, murmelte Jakob Kuisl. »So viel weiß ich selbst, du Schlaumeier. Genau die suchen wir ja. Aber hast du auch gesehen, wo diese Pforte sein soll?«
Verlegen zuckte Simon mit den Schultern. »Äh, leider nein. Ich hatte nur sehr wenig Zeit, und die Schrift war auch sehr undeutlich.«
Neben ihm seufzte Magdalena und reckte sich auf der harten Kirchenbank.
»Die Sache wächst mir langsam über den Kopf!«, stöhnte sie. »Bislang dachten wir doch, dass es diesem Hexer allein um die heiligen Hostien geht. Deshalb hat er den Uhrmacher Virgilius entführen lassen, um dessen Bruder, den Abt, zu erpressen. Das ist ihm auch gelungen. Was also sollen diese unterirdischen Gänge? Warum hat der Graf eine Karte davon? Und was um Himmels willen verstecken Pater Benedikt und Pater Eckhart dort unten? Das ergibt doch alles keinen Sinn!«
Simon schwieg. Er dachte an das Tüchlein mit der Initiale ›A‹, das sie neben dem Grab des alten Mönchs gefunden hatten. Jakob Kuisl und er hatten diese Entdeckung bislang vor Magdalena geheim gehalten, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. Lauerte in den Tiefen des Klosters vielleicht wirklich ein Golem, ein Automat, der durch die Hostien zum Leben erwacht war und sich nun nicht mehr bändigen ließ?
»Ich wette mein Richtschwert, dass die Hostien nicht mehr in der Monstranz sind«, meldete sich nun Jakob Kuisl, der weiter an seiner kalten Pfeife zog. »Dieser Hexer hat sie sich geholt, so viel ist sicher. Morgen am Dreihostienfest werden der Prior und die anderen Mönche einfach ein paar trockene Oblaten in die Höhe halten und den Wallfahrern zeigen. Keiner wird etwas
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