Der Hexer und die Henkerstochter
schließlich mit auffordernder Gebärde eine Dörrpflaume unter die Nase. Erst jetzt fiel Magdalena auf, dass der Mund ihres Ältesten über und über mit Pflaumenresten verschmiert war.
»Ah, jetzt wird mir alles klar!«, lachte sie. »Du bist hier runtergefallen, und der Matthias hat dich mit Dörrzwetschgen getröstet. Kein Wunder, dass ich nichts von dir gehört habe. Wie auch, wenn dein Mund voll Süßigkeiten ist!«
Peter schnappte ihr die süße Frucht vor der Nase weg und verschlang sie gierig. Als sein jüngerer Bruder zu jammern anfing, gab ihm Matthias ebenfalls eine Pflaume, die Paul sich sogleich in den Mund stopfte.
Gemeinsam spazierten sie nun unten am Hang entlang, vorbei an moosigen Felsen und Buchen, deren grünes Laub in der Mittagssonne schimmerte. Nach dem überstandenen Schrecken fühlte sich Magdalena wie neugeboren. Mittlerweile durfte der kleine Paul auf Matthias’ Schultern reiten, und Peter ging an seiner Hand. Die Kinder schienen den stummen Gesellen aufrichtig zu mögen. Matthias deutete auf Vögel im Wald, ließ Blätter wie Regen durch die Luft wirbeln und verzog sein Gesicht zu den komischsten Grimassen, so dass die Kinder kieksten und lachten. Unwillkürlich musste Magdalena lächeln.
Hoffentlich erfährt das hier niemals der Simon , dachte sie. Ich weiß gar nicht, wann die Kinder bei ihm das letzte Mal so gelacht haben. Er hat einfach zu wenig Zeit für sie.
Nach einer Weile kamen sie an eine Felsgruppe, die aussah, als wäre sie der letzte Überrest eines verfallenen Mauerrings. Weiter hinten erhob sich eine Art Felsnadel. Peter ließ die Hand des stummen Matthias los und eilte auf die Felsen zu, um hinaufzuklettern. Oben angekommen, balancierte er am Rand des Runds entlang. Doch plötzlich blieb der Junge wie angewurzelt stehen.
»Was hast du, Peter?«, fragte Magdalena besorgt. »Stimmt was nicht?«
»Da vorne, Mama.« Peter deutete auf einen weiteren Felsbrocken, der sich noch ein gutes Stück entfernt befand. Von weitem sah er aus wie der riesige Kopf eines Trolls. Die Stimme des Jungen klang jetzt leise und verängstigt. »Schau, Mama! Da ist wieder die Hex. Ich hab Angst vor der Hex.«
»Was für eine Hex?«
Mit klopfendem Herzen eilte Magdalena hinüber zu dem Felsring, gefolgt von Matthias und dem kleinen Paul. Als sie ihn zur Hälfte umrundet hatte, sah sie am Fuß der Mauer eine alte Frau in einem zerfetzten Gewand stehen. Ihr Oberkörper war gekrümmt wie unter einer furchtbaren Last. Die weißhaarige Greisin wandte sich ihr zu, und Magdalena erkannte an den milchigen leeren Augen, dass sie blind war.
»Die Kinder!«, flüsterte die Frau, und ihre Stimme klang wie das Heulen des Windes. »Die Kinder sind in großer Gefahr. Jemand will ihnen Böses. Ich spüre das!«
»Was … was redest du da, Weib?«, fragte Magdalena und schob sich näher an Matthias. »Wer will meinen Kindern Böses?«
Mit einem zornigen Grunzen stapfte der stumme Hüne auf den Felsring zu und zog den vor Angst starren Peter zu sich herunter. Der Bub konnte den Blick nicht von der Alten in dem löchrigen Gewand abwenden.
»Das Böse ist überall!«, jammerte die Greisin jetzt. »Ich bewache den Eingang zur Hölle, doch das Böse hat sich längst in unseren Kammern und Stuben breitgemacht! Ich kann es nicht mehr aufhalten. Hütet euch, Kinder! Hütet euch!«
Blind vorwärts tastend, taumelte die Alte nun auf Matthias, Magdalena und die Kinder zu. Mit ihren langen schmutzigen Fingernägeln schien sie nach dem kleinen Paul greifen zu wollen. Der Schindergeselle gab ihr einen Schubs, so dass sie nach hinten umfiel und im nassen Laub landete.
»Weh euch!«, schrie sie wie von Sinnen. »Weh euch! Das Böse greift um sich, ich kann es in den Eingeweiden des Bergs rumoren hören. Ich höre sein Lied, jede Nacht! Das Ende ist nah!«
Verstört fasste Magdalena ihre Kinder an der Hand und ging Schritt für Schritt rückwärts, zurück zu dem Hang, wo sie hergekommen waren.
»Hör zu, Alte«, versuchte die Henkerstochter zu beschwichtigen. »Wir wollen dir nichts tun. Es tut mir leid, wenn wir dich erschreckt haben.«
Magdalena murmelte besänftigend, während sie mit den Kindern immer weiter zurückwich. Die Frau war ganz offensichtlich verrückt. Doch gerade die Verrückten sprachen oft Flüche, die später in Erfüllung gingen. Das sagten jedenfalls die Alten, und vielleicht war ja etwas Wahres daran.
Noch immer jammerte die Greisin, doch mittlerweile war ihr Gerede in ein bloßes
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