Der Highlander und der wilde Engel
ihm.“ „Und er vertraut Euch“, sagte Averill leise.
Kade nickte stumm. Daran hatte er nicht einen Herzschlag lang gezweifelt. Sie hatten während ihres Sklavendaseins gelernt, einander zu vertrauen, denn sie hatten überlebt, indem sie einander den Rücken gedeckt hatten. Er, seine Männer und Will waren nicht die einzigen Gefangenen im Kerker gewesen. Auch einige ehemalige Bewohner der von Baibars eingenommenen Städte hatten dort gesessen. Die meisten seien getötet worden, hatte man Kade zugetragen, doch einige hatte man verschont, damit sie für ihre neuen „Herren“ schufteten - Herren, die ihnen kaum mehr als ein wenig dünne Suppe und verfaultes Gemüse zu essen gaben und die sie unter der heißen Sonne des Morgenlandes regelrecht zu Tode schikanierten.
Schwächlich und fügsam wollte man die Sklaven, und so reichte das Essen nie für alle. Männer töteten ihre eigenen Mitgefangenen für wenig mehr als einen Kanten Brot und eine Hand voll Schweinefutter. Doch die Zahl derer, die durch die Hand ihrer verzweifelten Kameraden starben, war nichts im Vergleich zu der Menge gewesen, die zu Tode geprügelt oder geschunden worden war.
„Will erzählte mir, dass die Flucht Euer Plan gewesen sei und Ihr ihn damit überrascht habt. Ian habe sich auf Euer Geheiß hin tot gestellt, sagte er, und als die Wachen Euch aufgefordert hätten, ihn nach draußen zu tragen, um ihn zu begraben, hättet Ihr den Wachmann angegriffen, der Euch am nächsten war, und ihm Schlüssel und Schwert abgerungen.“
Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln, sagte ihr aber nicht, dass dieser Plan auch ihm recht überraschend gekommen sei und dass er bedauere, ihn nicht schon früher ersonnen zu haben. Er schob es darauf, dass die Hitze seinen Schädel zum Kochen gebracht und ihn am Denken gehindert hatte. Hätte er den Einfall zeitiger gehabt, so wären mehr seiner Männer mit dem Leben davongekommen.
„Will berichtete, Ihr habt ihm die Schlüssel zugeworfen und ihn angewiesen, die übrigen Männer zu befreien, ehe Ihr Euch mit dem gestohlenen Schwert die beiden Wachen vorgenommen habt“, fuhr Averill leise fort. „Das war sehr tapfer. “
„Das war Verzweiflung“, widersprach er trocken. „Nach all dieser Zeit im Kerker war ich eigentlich nicht in der Verfassung, es gleich mit zweien aufzunehmen. “
„Und dennoch habt Ihr es getan“, stellte sie fest.
Er zuckte im Liegen mit den Achseln. Sein Stolz verbot ihm zu erklären, dass nichts als Glück ihm zum Sieg verholfen hatte. Vor diesen fünf Jahren Kerkerhaft und Hunger hätte er sich, ohne nachzudenken oder zu schwanken, mit drei oder gar mehr Männern angelegt... und hätte über sie alle triumphiert. Doch nur die launische Hand des Schicksals, so wusste er, hatte ihm bei dieser Flucht die Haut gerettet. Hätte Will die anderen nicht so rasch aus ihren Zellen befreit, damit sie ihm im Kampf beistehen konnten, so wären sie nun zweifellos allesamt tot.
Ein Gähnen zwang Kades Mund so weit auf, dass es beinahe schmerzte, und er hob die Hand, um sie sich vor den Schlund zu halten, wobei er an den kalten Umschlag kam und ihn aus Versehen nach oben schob. Er ließ die Hand zurück aufs Laken sinken, ohne das Tuch zu richten, und entschuldigte sich murmelnd für sein unhöfliches Gebaren.
„Ruht Euch aus“, entgegnete Averill und beugte sich vor, um den Wickel wieder glatt zu streichen. Dabei erhaschte er einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, ehe der Stoff wieder seine Augen bedeckte. „Schlaf ist derzeit das beste Heilmittel für Euch“, sagte sie sanft. „Vielleicht lese ich Euch später etwas vor, um Euch die Zeit zu vertreiben.“
Er erwiderte nichts, während er hörte, wie sie sich auf dem Stuhl wieder zurechtsetzte, denn in seinem Kopf herrschte Verwirrung. Zwar hatte Will nichts gesagt, dass seine Schwester als unansehnlich hätte erscheinen lassen, doch ihre Geschichte über die von ihrem Vater geladenen Werber, die sie auf eine solch harte Probe stellten, hatte ihn annehmen lassen, dass sie hässlich oder doch wenigstens reizlos sei. Was er jedoch in dem flüchtigen Moment erspäht hatte, ehe sie den Stoff wieder zurechtzog und ihm somit die Sicht nahm, war ganz anderer Art gewesen.
Als Kade an diesem Morgen erwacht war, hatte er festgestellt, dass seine Sehkraft sich stark gebessert hatte, was gewiss daran lag, dass er so viel getrunken hatte. Er sah fast wieder so gut wie früher, und das Gesicht, das er gerade erblickt hatte, war hübsch gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher