Der Himmel auf Erden
verliehen«, sagte Barbara Waggoner. »Du erinnerst dich doch, wie wir mit der Kamera bei ihr waren? Oder?«
Der Junge nickte.
»Möchtest du meine Kamera sehen?«, fragte Winter.
Der Junge schien zu zögern, nickte dann jedoch.
Winter richtete sich auf und ging in die Mitte des Zimmers. Das war wichtig. Simon kam mit seiner Mama hinterher. Normalerweise waren Angehörige nicht beim Verhör dabei, aber die Situation hier war nicht normal. Winter wusste, dass Simon schweigen würde, wenn er seine Mama nicht sehen konnte.
»Die ist aber nicht groß«, sagte Simon.
»Ich zeig sie dir«, sagte Winter und nickte Barbara Waggoner zu, die Simon hochhob, während Winter sich auf den Stuhl setzte, auf dem Simon sitzen sollte. Simon schaute durch das Objektiv.
»Kannst du mich sehen?«, fragte Winter.
Simon antwortete nicht. »Siehst du, dass ich jetzt die Hand bewege?«
»Ja«, sagte Simon.
*
Sie saßen auf ihren Plätzen. Der Film lief. Vorsichtig begann Winter das Gespräch, er musste mit neutralen Themen anfangen, dann bekam er auch einen Eindruck, wie gut Simon sprechen konnte, wovon er sprach, seinem Sprachvermögen, seiner Phantasie, seinem Verhalten. Seiner Fähigkeit, Zeit in Bezug zu Ereignissen zu setzen.
»Hast du einen Schneemann gebaut, Simon?«
Simon nickte.
»Hast du den in diesem Winter gemacht?«
Der Junge antwortete nicht.
»Wo ist der Schneemann jetzt?«
»Da draußen.« Simon zeigte zum Fenster.
»Auf dem Rasen?«
»Er ist kaputt.« Simon machte eine Bewegung mit der gesunden Hand.
Winter nickte.
»Er ist zerschmolzen«, sagte Simon.
»Ich hab seine Nase gesehen, als ich gekommen bin.«
»Ich hab sie reingesteckt«, sagte Simon.
Wieder nickte Winter. »Hast du im Kindergarten auch einen Schneemann gebaut, Simon?«, fragte Winter.
Der Junge nickte. »Hast du viele gemacht?«
»Es gab keinen Schnee.«
»Spielst du dann drinnen?«
Simon antwortete nicht. Er hielt immer noch seinen Teddy Billy im Arm, aber nicht mehr ganz so fest. Er schaute nicht mehr so oft in die Kamera oder zu seiner Mutter.
In den ersten Minuten hatte Winter befürchtet, es könnte falsch gewesen sein, sie mit im Zimmer zu haben, aber jetzt glaubte er es nicht mehr.
»Spielst du drinnen, wenn es schneit, Simon?«
»Neee, spiel draußen.«
»Erzähl mal, was ihr so spielt.«
Der Junge schien darüber nachzudenken, was er sagen sollte. Winter versuchte ihn dazu zu bringen, dass er mehr erzählte, aber das war vielleicht noch zu früh.
»Spielt ihr Verstecken?«
»Ja.«
»Spielt ihr Kriegen?«
Simon antwortete nicht. Vielleicht wusste er nicht, was »Kriegen« bedeutete.
»Spielt ihr Fangen?«
»Ja.«
»Schaukelt ihr?«
»Oooh ja, und rutschen.«
»Rutschst du gern?«
»Oooh ja. Und Zug.«
»Habt ihr einen Zug im Kindergarten?«
Simon antwortete nicht.
Winter dachte nach. Plötzlich waren sie bei dem Spielplatz, wo Simon verschwunden war, am Rand des großen Parks. Ein gewöhnliches Ausflugsziel vom Kindergarten. Dort gab es einen kleinen Zug aus Holz. Lok und Wagen, am Rand des großen Platzes, die immer voller Kinder waren.
Plötzlich waren sie dort, er und Simon. Würde er sie auch wieder zu dieser Geborgenheit zurückführen können, hierher zurück nach Hause und zum Kindergarten, die große Kreisbewegung fortführen? Oder würden sie hier bleiben und sich dem Trauma des Jungen nähern, hinein in die Dunkelheit? Winter wusste, wenn er zu schnell voranging, würde er vielleicht nicht in eine Situation zurückkehren können, in der der Junge erzählte, was wirklich passiert war. Er würde wieder in Schweigen verfallen, und sie würden nichts erfahren.
»Bist du mit dem Zug gefahren?«
»Ja.«
»Wo bist du mit dem Zug gefahren, Simon?«
»Auf dem… Spielplatz.«
»Habt ihr einen Ausflug mit dem Kindergarten gemacht?«
Simon nickte. »Viele Male gefahren«, sagte er und bewegte sich auf dem Stuhl.
Bald machen wir eine Pause für Saft, Kuchen, Kaffee und Zig… Nein, den nicht. Aber er spürte das Verlangen, es wurde größer, je mehr sich die Spannung steigerte.
»Fährst du immer mit dem Zug?«
»Ja!«
»Fahren da viele mit?«
»Ja!«
»Wer fährt mit dir, Simon?«
»Arvid und Valle und Oskar und Valter und Manfred und… und…« Und Winter dachte daran, wie die Zeiten sich geändert hatten, hundert Jahre alte Namen werden wieder populär; vor zwanzig Jahren hätte Simon nichts anderes beschrieben als eine Gesellschaft von Pensionären, die in einen Spielzeugzug gekrochen
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