Der Himmel auf Erden
dort draußen aushalten würde. Victoria brauchte ihre Medizin. Bald war Weihnachten. Heute war der Tag vor dem Tag. Sie hatte noch nicht alle Weihnachtsgeschenke eingekauft, nicht für Hannes und nicht für Magda, aber zwei Platten für Fredrik mit Richard Buckner und Kasey Chambers, die hatte er sich gewünscht, unter anderem. Sie hatte selbst eine Wunschliste geschrieben. Sie würde Heiligabend zu Hause bei der Familie Halders essen, den eigentümlichen sehr nordischen Brauch, Brot in die Brühe vom Weihnachtsschinken zu tunken, ausprobieren und sich vielleicht ausnahmsweise mal nicht den Scherz von Fredrik anhören müssen, dass sie ausgerechnet heute leider keine Maniokgrütze hätten. Sie würde Weihnachtsgeschenke auspacken, die unterm Tannenbaum gelegen hatten.
Sie sah das Mädchen an, das jetzt aufgestanden war. Fast ein Wunder, dass sie so lange sitzen geblieben war.
Würde der Papa die Familie zu Weihnachten besuchen? »Deine Mama hat erzählt, du bist mit einem Onkel im Auto gefahren«, sagte Aneta Djanali.
»Nicht gefahren«, antwortete Ellen.
»Bist du nicht mit einem Onkel gefahren?«
»Nicht gefahren«, wiederholte Ellen. »Still gestanden.«
»Hat das Auto still gestanden?«
Ellen nickte. »Wo stand das Auto?«, fragte Aneta Djanali.
»Im Wald.«
»War es ein großer Wald?«
»Nein! Beim Spielplatz.«
»War es der Wald neben dem Spielplatz?«
»Ja.«
»War Victoria auch dabei, als du im Auto gesessen hast?«
Ellen nickte wieder.
»Wollte Victoria das Auto fahren?«
»Nein, nein.« Ellen lachte.
»Das Auto war groß!«
»War der Onkel auch groß?«
Das Mädchen nickte.
»Erzähl mal, wie du den Onkel getroffen hast«, sagte Aneta Djanali zu Ellen, die jetzt neben dem bunten Sessel stand. In der Wolkendecke, die wie graues Einschlagpapier in der Erwartung von Weihnachten über der Stadt lag, hatte sich ein größerer Spalt geöffnet, und der Spalt ließ nun Sonnenlicht herein, das auf den Sesselrücken fiel. Ellen rief etwas und zeigte mit mehreren Fingern auf einen Lichtreflex, der da war und plötzlich wieder verschwand, als sich die Wolkendecke wieder schloss.
»Erzähl mal, wie du den Onkel mit dem Auto getroffen hast«, wiederholte Aneta Djanali.
»Er hatte Bonbons«, antwortete Ellen.
»Hast du Bonbons gekriegt?«
Sie nickte. »Haben die gut geschmeckt?«
Sie nickte.
»Was waren das für Bonbons?«
»Bonbons«, antwortete Ellen in selbstverständlichem Tonfall. Bonbons waren eben Bonbons.
»Hast du alle aufgegessen?«
Sie nickte wieder. Sie hatten den Platz nach Bonbonpapier abgesucht und natürlich sofort begriffen, dass es wie die Suche nach einem Halm im Heuhaufen war. Es war ein Spielplatz, ein Park, Kinder, Eltern, Bonbons…
»Was hat der Onkel gesagt?«
Ellen trippelte im Raum herum, machte ein paar Schritte wie eine Balletttänzerin. Sie antwortete nicht. Das war eine schwere Frage.
»Was hat der Onkel gesagt, als er dir die Bonbons geschenkt hat?«
Sie schaute auf. »Möchtest du Bonbons?«
Aneta Djanali nickte, wartete. Ellen drehte eine kleine Pirouette. »Hat er noch mehr gefragt?«
Ellen schaute auf.
»Vovovovo«, sagte sie.
Aneta Djanali wartete.
»Papapapa«, sagte Ellen.
Zeit für eine Pause, dachte Aneta Djanali. Eigentlich mehr als das. Das Mädchen wurde müde. Sie hatte es auch einen Blick auf ein paar jüngere und ältere Männer im Haus werfen lassen, einen Zwanzigjährigen, einen Dreißigjährigen, einen Vierzigjährigen, einen Fünfzigjährigen und einen Sechzigjährigen. Und dann sollte sie auf den zeigen, der so alt aussah wie der Onkel. Falls es möglich war. In dieser eitlen Clique wollten die Fünfzigjährigen vierzig sein und der Vierzigjährige hatte traurig und ärgerlich ausgesehen, als sie sein richtiges Alter riet. Nur der Zwanzig- und der Sechzigjährige waren unbekümmert. Auch für Männer war das Alter von Bedeutung, vermutlich besonders für sie. Männer waren eben auch Menschen. Das durfte sie nicht vergessen.
Sie hatte Ellen etwas zeichnen lassen wollen, unter anderem ein Auto in einem Wald.
»Papapapapa«, sagte Ellen jetzt und drehte noch eine Pirouette.
»Redest du von deinem Papa?«, fragte Aneta Djanali. »Ellen? Redest du von Papa?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und wiederholte: »PAPA- PA!«
»Hat der Onkel gesagt, dass er dein Papa ist?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Vivivivi«, sagte sie jetzt.
Aneta Djanali schaute wie Hilfe suchend in die Kamera.
»Warum sagst du das?«, fragte sie.
Das
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