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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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– die richtige Länge für einen Traktat – und begann mit dem Augustinus zugeschriebenen
     Satz »Credo quia absurdum«, was wörtlich übersetzt lautete: »Ich glaube es, weil es widersinnig ist.« Der deutsche Text klang
     in seinen Ohren viel schriller als das lateinische Zitat. Es war die zu erwartende Eröffnung, die den Glauben in einen fundamentalen
     Gegensatz zum Wissen oder zum Erkennen brachte, eigentlich ein ziemlich traditioneller Beginn. Aber er war sicher, dass Patrik
     dem Thema einige überraschende Wendungen abgewinnen würde. Das wollte |70| er sich für den Abend aufsparen. Jetzt wollte er lieber in Ruhe seinen Cappuccino genießen und die durch die Einkaufsstraße
     flanierenden Menschen betrachten, wie er es früher zusammen mit Claudia gemacht hatte. Die Welt allein zu sehen, war etwas
     grundsätzlich anderes, als zu zweit. Man sah sie schärfer oder, um bei Augustinus zu bleiben, absurder, und man fühlte sich
     ausgesetzt und von allen anderen getrennt. Manchmal litt er darunter, und manchmal dachte er, dass es der zu ihm passende
     Platz sei. Vielleicht hatte so gesehen jeder seinen Platz. Claudia hatte irgendwann die Überzeugung gewonnen, dass es falsch
     für sie sei, bei ihm zu bleiben. Sie war unruhig und reizbar geworden, und außerdem vergesslich. Er hatte aufpassen müssen,
     dass sie bei einem fast überstürzten Aufbruch nach einem Streit hier im Café nicht ihre Handtasche vergaß, die sie über die
     Stuhllehne gehängt hatte. Worüber sie sich damals gestritten hatten, wusste er nicht mehr. Es war eine Art Stellvertreterdiskussion
     gewesen, die das, was sie trennte, zwar spürbar machte, aber zugleich verdeckte. Vermutlich dachte sie längst nicht mehr daran.
     Sie stellte sich wohl auch nicht vor, dass er aus Gewohnheit immer noch in dasselbe Café ging und sich an sie erinnerte. Es
     gehört zu meiner Entwöhnungskur, hatte er sich gesagt. Aber das stimmte nicht. Er winkte den Ober herbei und zahlte.
    Zum zweiten Mal kam er heute am Baggersee vorbei, diesmal in der Richtung, in der Karbe in der Unglücksnacht gefahren war.
     Er fuhr langsam durch die lang gestreckte Kurve, dieses Mal ohne Gegenverkehr. |71| Dann kam die Stelle, wo die Straße dicht an den Abhang heranrückte. Unten war der See. Eine unbewegte, im Sonnenlicht glitzernde
     Wasserfläche. Anhalten wollte er hier nicht. Es gab ja auch nichts zu sehen, außer der alltäglichen, ungestörten, in sich
     selbst ruhenden Normalität, die allerdings das Unheimliche war.
     
    Nach seinem Abendessen, einer Pizza Margherita, die in dem Tiefkühlfach gelegen hatte, und den Fernsehnachrichten, die er
     wie immer beim Abendessen sah, verbrachte er den restlichen Abend mit Patrik Graefes Buch.
    Er hatte im letzten Jahr kaum Kontakt zur aktuellen Theologie gehabt. Bei Patrik war das anders gelaufen. Er hatte schon während
     des Studiums angefangen zu publizieren und sich einen Namen gemacht. Eine Zeit lang waren seine kurzen Kommentare zu aktuellen
     Lebensthemen regelmäßig im Rundfunk zu hören gewesen.
    Patrik konnte schreiben, manchmal, so erschien es ihm, mit selbstgefälliger Gewandtheit und Eleganz. Das bewies er gleich
     wieder auf den ersten Seiten. Er hatte immer griffige, anschauliche Ideen. Dieses Mal war es der Begriff der »Kluft«, um den
     herum er seinen Text aufbaute. Es gab eine wachsende Kluft zwischen der naiven Alltagsfrömmigkeit der Mehrzahl der Menschen,
     für die Gott eine allmächtige Person und der Himmel ein Ort war, und der im historischen Prozess immer weiter fortschreitenden
     Spiritualisierung aller alten Glaubensgewissheiten, die sich im |72| Nichtwissen auflösten und zum Glauben an das Unglaubliche wurden. In diesen Abgrund musste man sich fallen lassen, um sich,
     befreit und gereinigt von den Schlacken der traditionellen, verdinglichten Metaphysik, aber erfüllt von ihrer bleibenden Wahrheit,
     wieder dem christlichen Weltverständnis und dem alltäglichen seelsorgerischen und sozialen Liebesdienst zuzuwenden.
    Hatte er das richtig verstanden? War das Modell, das Patrik so elegant beschrieben hatte, nicht einfach nur eine schlaue Anpassung
     an die ständige Wechselwirtschaft zwischen zelebrierter Andacht und alltäglicher Routine, die ihn immer wieder mit einem faden
     Gefühl von Unzulänglichkeit und Halbheit erfüllte? War Patriks Theorem der Kluft ein Plädoyer für den unvermeidbaren Kompromiss?
    Er hatte immer schon gewusst, dass Patrik ein Kopfgläubiger war, der nicht

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