Der Himmel ist kein Ort
– die richtige Länge für einen Traktat – und begann mit dem Augustinus zugeschriebenen
Satz »Credo quia absurdum«, was wörtlich übersetzt lautete: »Ich glaube es, weil es widersinnig ist.« Der deutsche Text klang
in seinen Ohren viel schriller als das lateinische Zitat. Es war die zu erwartende Eröffnung, die den Glauben in einen fundamentalen
Gegensatz zum Wissen oder zum Erkennen brachte, eigentlich ein ziemlich traditioneller Beginn. Aber er war sicher, dass Patrik
dem Thema einige überraschende Wendungen abgewinnen würde. Das wollte |70| er sich für den Abend aufsparen. Jetzt wollte er lieber in Ruhe seinen Cappuccino genießen und die durch die Einkaufsstraße
flanierenden Menschen betrachten, wie er es früher zusammen mit Claudia gemacht hatte. Die Welt allein zu sehen, war etwas
grundsätzlich anderes, als zu zweit. Man sah sie schärfer oder, um bei Augustinus zu bleiben, absurder, und man fühlte sich
ausgesetzt und von allen anderen getrennt. Manchmal litt er darunter, und manchmal dachte er, dass es der zu ihm passende
Platz sei. Vielleicht hatte so gesehen jeder seinen Platz. Claudia hatte irgendwann die Überzeugung gewonnen, dass es falsch
für sie sei, bei ihm zu bleiben. Sie war unruhig und reizbar geworden, und außerdem vergesslich. Er hatte aufpassen müssen,
dass sie bei einem fast überstürzten Aufbruch nach einem Streit hier im Café nicht ihre Handtasche vergaß, die sie über die
Stuhllehne gehängt hatte. Worüber sie sich damals gestritten hatten, wusste er nicht mehr. Es war eine Art Stellvertreterdiskussion
gewesen, die das, was sie trennte, zwar spürbar machte, aber zugleich verdeckte. Vermutlich dachte sie längst nicht mehr daran.
Sie stellte sich wohl auch nicht vor, dass er aus Gewohnheit immer noch in dasselbe Café ging und sich an sie erinnerte. Es
gehört zu meiner Entwöhnungskur, hatte er sich gesagt. Aber das stimmte nicht. Er winkte den Ober herbei und zahlte.
Zum zweiten Mal kam er heute am Baggersee vorbei, diesmal in der Richtung, in der Karbe in der Unglücksnacht gefahren war.
Er fuhr langsam durch die lang gestreckte Kurve, dieses Mal ohne Gegenverkehr. |71| Dann kam die Stelle, wo die Straße dicht an den Abhang heranrückte. Unten war der See. Eine unbewegte, im Sonnenlicht glitzernde
Wasserfläche. Anhalten wollte er hier nicht. Es gab ja auch nichts zu sehen, außer der alltäglichen, ungestörten, in sich
selbst ruhenden Normalität, die allerdings das Unheimliche war.
Nach seinem Abendessen, einer Pizza Margherita, die in dem Tiefkühlfach gelegen hatte, und den Fernsehnachrichten, die er
wie immer beim Abendessen sah, verbrachte er den restlichen Abend mit Patrik Graefes Buch.
Er hatte im letzten Jahr kaum Kontakt zur aktuellen Theologie gehabt. Bei Patrik war das anders gelaufen. Er hatte schon während
des Studiums angefangen zu publizieren und sich einen Namen gemacht. Eine Zeit lang waren seine kurzen Kommentare zu aktuellen
Lebensthemen regelmäßig im Rundfunk zu hören gewesen.
Patrik konnte schreiben, manchmal, so erschien es ihm, mit selbstgefälliger Gewandtheit und Eleganz. Das bewies er gleich
wieder auf den ersten Seiten. Er hatte immer griffige, anschauliche Ideen. Dieses Mal war es der Begriff der »Kluft«, um den
herum er seinen Text aufbaute. Es gab eine wachsende Kluft zwischen der naiven Alltagsfrömmigkeit der Mehrzahl der Menschen,
für die Gott eine allmächtige Person und der Himmel ein Ort war, und der im historischen Prozess immer weiter fortschreitenden
Spiritualisierung aller alten Glaubensgewissheiten, die sich im |72| Nichtwissen auflösten und zum Glauben an das Unglaubliche wurden. In diesen Abgrund musste man sich fallen lassen, um sich,
befreit und gereinigt von den Schlacken der traditionellen, verdinglichten Metaphysik, aber erfüllt von ihrer bleibenden Wahrheit,
wieder dem christlichen Weltverständnis und dem alltäglichen seelsorgerischen und sozialen Liebesdienst zuzuwenden.
Hatte er das richtig verstanden? War das Modell, das Patrik so elegant beschrieben hatte, nicht einfach nur eine schlaue Anpassung
an die ständige Wechselwirtschaft zwischen zelebrierter Andacht und alltäglicher Routine, die ihn immer wieder mit einem faden
Gefühl von Unzulänglichkeit und Halbheit erfüllte? War Patriks Theorem der Kluft ein Plädoyer für den unvermeidbaren Kompromiss?
Er hatte immer schon gewusst, dass Patrik ein Kopfgläubiger war, der nicht
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