Der Himmel ist kein Ort
auf die geschriebenen Worte starrte. Es war ein Schwindelgefühl, eine ansteigende
Übelkeit, gegen die er sich wehrte, indem er den Schreibblock mit einem schnellen Griff umdrehte, sodass die graue Pappe der
Rückseite oben lag. Gleich danach war er ruckartig aufgestanden, um rauszugehen.
|67| Schon auf der Treppe beschloss er, in die Stadt zu fahren. Er hatte auch einen praktischen Grund. Er musste eine neue Leuchtröhre
für die Küche kaufen, weil die alte über dem Spülbecken vor einigen Tagen erloschen war.
Vor allem aber wollte er noch einmal die Autostraße am Baggersee entlangfahren, zunächst einmal in der Richtung, aus der angeblich
das Auto gekommen war, das Karbe geblendet hatte, und auf der Rückfahrt in Karbes Spur. Im Voraus wusste er, dass ihm die
Fahrt keine neuen Erkenntnisse bringen würde. Er kannte ja die sanfte Weiträumigkeit der Kurve, in der das Unglück passiert
war. Wie auch immer es geschehen sein mochte – im hellen Tageslicht sah alles ungefährlich und banal aus. Die Schreckbilder
der Nacht schienen einer völlig anderen Geschichte anzugehören. Ja, so begann das Vergessen. Das war es, was die Menschen
so robust machte. Sie kehrten immer so schnell wie möglich zu ihren Gewohnheiten und Gewissheiten zurück. Autostraßen konnten
Schlachtfelder elementarer Gewalt sein. So jedenfalls hatte er es in der Nacht empfunden. Im Augenblick war das nur noch eine
Floskel. Sogar der bandagierte Kopf des Jungen und seine umherirrenden Augen erschienen ihm im Augenblick wie ein Zitat einer
anderen, abgerückten Erfahrung. So wie die Dinge standen, würde der Junge wohl noch ziemlich lange beatmet werden, bevor man
beschloss, die Maschine abzustellen. Dazu brauchte man die Einwilligung von Karbe, weil er der Vater war. Aber konnte ausgerechnet
er einen solchen Entschluss fassen? Und wie würde das wohl gedeutet |68| werden? Vielen würde das wahrscheinlich als Vertuschung erscheinen.
Er fuhr zum Krankenhaus, um mehr zu erfahren, war aber nicht überzeugt, dass das ein berechtigtes Interesse war. Seine Meinung
war hier wohl kaum gefragt. Und er musste sich auch eingestehen, dass er keine klare Meinung hatte. In der Ambulanz erfuhr
er, dass Dr. Kühne Nachtdienst hatte und erst gegen Abend ins Krankenhaus kam. Er hatte einen freien Tag. Und wegen des schönen
Sommerwetters war er vielleicht zum Baden oder zum Segeln gefahren. Vielleicht lag er auch in einem Liegestuhl in einem Garten
und las einen Kriminalroman. Er wusste nicht, wie Kühne lebte. Hatte er eine Frau? Hatte er Kinder? Er hatte ihn nie danach
gefragt. Für ihn war er eine bevorzugte Informationsquelle gewesen, wenn er Krankenbesuche machte. Jetzt entdeckte er niemanden,
den er kannte. Auch über Kerstin Karbe und ihre Obduktion erhielt er keine Auskunft. Niemand schien etwas über sie zu wissen.
Anscheinend war ihr Leichnam nicht mehr hier. Ein Krankenpfleger, oder war es ein junger Arzt, sagte ihm, bei Todesfällen
mit ungeklärtem Hintergrund fände die gerichtsmedizinische Untersuchung in der Pathologie einer Uniklinik statt. Ob es sich
tatsächlich so verhielt, wusste er nicht.
Gut, das entlastete ihn. Er wurde nicht gebraucht und konnte jetzt tun, was er wollte. Nach Hause fahren wollte er allerdings
noch nicht. Er war vor seiner Arbeit davongelaufen und fühlte sich im Augenblick nicht gewappnet, wieder darauf zuzugehen.
Ohnehin wollte er ein paar Besorgungen machen.
|69| Nachdem er die Leuchtröhre für die Küche gekauft hatte, ging er in eine der beiden Buchhandlungen der Stadt, um die auf einem
Tisch ausgelegten Neuerscheinungen anzusehen. Unter anderem lagen dort neue Bändchen einer Buchreihe mit Texten zu aktuellen
Zeitproblemen, von denen er schon einige besaß. Eine der Neuerscheinungen mit dem Titel »Die Zumutung des Glaubens. Eine Meditation«
war ein Text von Patrik Graefe. Das war wieder einmal clever! Das Bändchen war pünktlich zu der in zwei Wochen stattfindenden
Akademietagung herausgekommen, die unter demselben Titel angekündigt war. Unter den drei Initiatoren befand sich auch Patrik.
Warum auch nicht?, dachte er. Er ist nicht so schwerfällig wie ich. Außerdem schreibe ich ja keine Bücher und bereite keine
Tagungen vor. Leute wie Patrik wurden jedenfalls gebraucht.
Er kaufte das Buch und ging, seiner alten Gewohnheit folgend, in das Straßencafé nebenan, um erst einmal darin zu blättern.
Es war ein luftig gesetzter Text von 110 Seiten
Weitere Kostenlose Bücher