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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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nach den Tiefgräbern schauen, von
     denen Eschweiler gesprochen hatte. Wenn er sich recht erinnerte, gab es auch einen Hinterausgang in das angrenzende offene
     Gelände. Dort, an der Außenmauer, hatte er unter überhängenden Zweigen einmal eine alte Bank gesehen. Es war ein Platz, wo
     er um diese Zeit sicher allein war.
    |79| Auch der Friedhof war menschenleer, als er ihn auf dem breiten Hauptweg betrat. Schließlich sah er im hinteren Teil einen
     Gärtner, der verwelkte Blumensträuße und abgejätete Moospolster in seine Schubkarre lud. Wahrscheinlich handelte es sich um
     einen Gehilfen. Einen Grabplatz Karbe kannte er nicht, und das Büro am Eingang des Friedhofs, wo der Lageplan an der Wand
     hing, war geschlossen. Aber der Gärtner zeigte ihm die Parzelle, wo die Tiefgräber lagen. Es waren nur vier. Und alle waren
     in den letzten Amtsjahren seines Vorgängers belegt worden. Nun würde sich diese Reihe fortsetzen, sobald der Leichnam von
     Kerstin Karbe zur Bestattung freigegeben wurde. Es sah nicht so aus, als würde das noch in dieser Woche geschehen, denn dann
     hätten Eschweiler und auch er schon eine amtliche Mitteilung und einen Auftrag von Karbe bekommen müssen. Sieben Tage nach
     dem Tod musste die Bestattung stattfinden. Es sei denn, die Leiche wurde aus irgendwelchen Gründen für längere Zeit in einem
     Tiefkühlfach der Pathologie aufbewahrt.
    Während des Studiums war er einmal von einem befreundeten Medizinstudenten im geliehenen Arztkittel in den Sektionssaal mitgenommen
     worden, wo Leichen verschiedenen Alters nackt und grau auf Tischen lagen. An manchen wurde gearbeitet, einige lagen nur da,
     ausgestreckt in ihrer Reglosigkeit, mit hochgebundenem Unterkiefer und einem Band mit Namen und Todesdatum am Handgelenk.
     Bei einigen hatte man das Kopfband vergessen oder nachträglich entfernt, sodass die Münder aufklafften und ihre Gebisse |80| zeigten. Es sah aus, als schrien sie. Sie schrien anhaltend und unhörbar wie in einer abgetrennten, unzugänglichen Dimension
     außerhalb des Lebens. Ihre einzige wahrnehmbare Äußerung war der aufdringliche, süßliche Verwesungsgeruch, der trotz des beigemischten
     stechenden Geruchs von Formalin die kühle Luft des Saals erfüllte. Gegen seine wachsende Übelkeit ankämpfend, war er an verschiedene
     Tische herangetreten und hatte aufgeschnittene Leiber und herausgenommene Organe gesehen und es danach als ein wunderbares
     befreiendes Privileg empfunden, wieder in sein alltägliches Leben zurückzukehren. Nein, Arzt hätte er nicht werden können.
     Doch er hatte verstanden, dass er in den abgründigen Hintergrund seines Berufes geblickt hatte. Er war ein Angestellter einer
     der größten menschlichen Phantasieleistungen: der Vorstellung einer Auferstehung der Toten. Obwohl er selbst nicht mehr daran
     glaubte, wie er sich allmählich eingestanden hatte, war es ihm gelungen, den Trost dieser Phantasie nicht infrage zu stellen
     und zu ihrem Schutz jeden Versuch einer wörtlichen Zitierung zu umgehen. Viele Menschen verhielten sich vermutlich ebenso,
     ohne dass ihnen das bewusst wurde. Es war ein Glaube im Ungefähren und für alle Fälle. Patrik hatte daraus ein System gemacht.
    Hier auf dem sommerlichen Friedhof mit den gärtnerisch gepflegten Grabstellen, den liegenden oder aufgerichteten Steinen mit
     den eingravierten Namen und Lebensdaten der Toten, viele auch mit der Beigabe eines persönlichen Nachrufes oder eines frommen
     Spruches, sah der Tod wie eine gemeinsame Ruhe |81| der Verstorbenen aus, in der sie viele Jahre verweilen konnten, zur Zeit im Schatten der dicht belaubten Bäume und über die
     Jahre im sich wiederholenden Wechsel der Jahreszeiten. Es war ein schöner Ort. Er war gerne hier, in der Gesellschaft der
     Toten, von deren gedachter Anwesenheit Stille und Gelassenheit ausging, während er an ihren Gräbern vorbeischlenderte und
     hier und da stehen bleibend eine Inschrift las. Ja, es war gut, dass er hergekommen war, an diesen Ort, den er sonst nur zur
     Bestattung eines verstorbenen Gemeindemitglieds aufsuchte. Irgendwie hatte er gespürt, dass er eine Atempause brauchte, um
     sich wieder zu sammeln für alles, was ihm bevorstand, innerlich und äußerlich.
    Als er den Friedhof verlassen hatte und, wie er es vorgehabt hatte, auf der Bank an der Rückseite der Friedhofsmauer den zwielichtigen
     und aufstachelnden Unfallbericht las, von dem Eschweiler gesprochen hatte, regte er sich nicht mehr auf. Den Text hatte er
    

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