Der Himmel ist kein Ort
konzentrieren. Jetzt zum Beispiel war es zu spät, noch
irgendeine Mahlzeit aus der Tiefkühltruhe aufzutauen. Aber irgendwo hatte er noch eine Büchse Tomatensuppe. Dazu konnte er
sich ein Käsebrot machen, das reichte. Manchmal sagte er sich, um sich zu überzeugen, dass er noch in der Lage sei, Übersicht
zu behalten, er müsse einige Grundsatzentscheidungen treffen, um sein Leben zu verändern. Vielleicht verhielt es sich aber
umgekehrt: Grundsatzentscheidungen setzten bereits Veränderungen voraus.
Alles nur Worte, sagte eine kalte Stimme in seinem Kopf. Er kannte sie. Es war die Stimme des Widersachers, der in ihm hauste
und manchmal seine Gedanken unterbrach und auseinandertrieb. Gewöhnlich klang sie nörglerisch oder höhnisch, manchmal auch
zerstörerisch. Sie richtete sich immer gegen seine Bemühung |107| , Ordnung und Sinn in sein Leben zu bringen. Es war die Stimme eines grundsätzlichen Vorbehaltes, der sich nicht beschwichtigen
ließ. Vielleicht war sie gerade dadurch in ihm entstanden, dass er so angestrengt versucht hatte, seine Widersprüche zu glätten
und sein Leben ins Reine zu bringen. Der Einspruch dieser kalten, feindseligen Stimme sagte ihm, dass alles, was er aufbaute,
nur Fassade sei. Er übertönte sie immer, indem er sich einer seiner Pflichten und Routinen zuwandte. Das bedeutete jetzt,
sich mit der aufgewärmten Tomatensuppe und dem Käsebrot vor die Abendnachrichten zu setzen und anschließend zur Sitzung des
Presbyteriums nebenan ins Gemeindehaus zu gehen.
Zu Anfang seiner Amtszeit hatte er die Sitzungen des Presbyteriums als lästig und unproduktiv empfunden. Die meisten Mitglieder
waren seit Jahren im Ruhestand befindliche Leute, die sich bei den anstehenden Sachentscheidungen umständlich und nicht selten
auch rechthaberisch zeigten. Und immer überließen sich einige weitschweifig ihrem Redezwang. Das hatte ihn manchmal ungeduldig
reagieren lassen. Inzwischen hatte er verstanden, dass die Leute zu den Sitzungen kamen, weil es für sie gesellige Anlässe
waren, sich über das Gemeindeleben und die lokalen Neuigkeiten auszutauschen. Seitdem er ihnen den Spielraum dazu ließ, akzeptierten
sie ihn, auch wenn er ihnen widersprach.
Er ging eine Viertelstunde vorher ins Gemeindehaus hinüber, verteilte die Unterlagen auf dem Tisch |108| und schaute in den Kühlschrank, wo Bier und Mineralwasser bereitlagen. Es war üblich, dass sich jeder selbst aus dem Kühlschrank
bediente und den Preis seiner Getränke in eine gemeinsame Kasse zahlte.
Der Erste, der klingelte, war Rainer Wittek, der Jüngste im Presbyterium, vor einem Jahr zugewählt anstelle des ausgeschiedenen
Oberstudienrats Rautenbach, der bei den Sitzungen, die er nie versäumt hatte, der Wortführer und sein hartnäckigster Kritiker
gewesen war. Mit Rainer duzte er sich. Er unterrichtete Deutsch und Sport an der Realschule, und dort hatten sie sich im vergangenen
Jahr kennengelernt. Vor drei Monaten war Rainer mit seiner Frau in die Kreisstadt gezogen, die nicht mehr zum Gemeindebereich
gehörte. Aber er hatte ihn mit dem Einverständnis aller Mitglieder des Gemeindevorstands gebeten, zunächst einmal Mitglied
des Presbyteriums zu bleiben. »Ich brauche deine Stimme und auch deinen Verstand«, hatte er gesagt. Und Rainer hatte mit der
für ihn typischen Schlagfertigkeit geantwortet: »Wollen wir hoffen, dass beides zusammengehört.« Das mochte er an ihm. Es
war die Frischluftzufuhr, die das Presbyterium brauchte.
»Hallo, Rainer«, sagte er, »komm rein.«
»Bin ein bisschen früh«, sagte Rainer. »Bin ich der Erste?«
»Macht ja nichts. Im Gegenteil.«
Rainer nickte und deutete ein Lächeln an. Er war ein hübscher Kerl mit kurz geschnittenen aschblonden Haaren und blauen, kühl
oder keck wirkenden Augen, der sich sein Studium als Model für Sportbekleidung |109| verdient hatte. Neulich hatte er unter den Postwurfsendungen in seinem Briefkasten den Prospekt eines bekannten Modehauses
gefunden, in dem junge Männer Blousons und Wendejacken vorführten. Die lässigen Posen, in denen sie dastanden, hatten ihn
sofort an Rainer erinnert, der immer auf selbstverständliche Weise körperlich präsent war und an dem alles gut aussah, was
er trug.
Er wirkte entspannt und strahlte Wohlbefinden aus, als wäre er ein Mensch ohne Widersprüche, der das glückliche Leben verkörperte.
Er hatte damals den Prospekt beiseitegelegt und einen Blick in den Spiegel geworfen,
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