Der Himmel ist kein Ort
aus dem ihm seine schmalen, tief liegenden
Augen angeschaut hatten, als betrachteten sie jemanden, den sie nicht kannten. Zwischen den buschigen Augenbrauen hatten sich
zwei steile Falten eingekerbt, unter denen eine große Nase mit einer kleinen runden Geschwulst im Nasenwinkel das Gesicht
beherrschte. Der Mund war unauffällig, aber nicht ganz verschlossen, irgendwie zögernd. Ich bin es, hatte er gedacht, aber
ich weiß nicht, was ich von mir halten soll. Das Gesicht war leicht verzogen von unterdrückter Spannung. Er hatte es so lange
angeschaut, bis es ihm wie ein erstarrtes Brodeln erschienen war.
Vielleicht sah er anders aus, wenn andere ihn anschauten. Es überraschte ihn ein wenig, wie unbefangen Rainer ihn begrüßte.
Wahrscheinlich, weil er zu den heiteren Menschen gehörte, die jedermann mit Wohlwollen begegneten.
Nebeneinander, Rainer mit seinem lockeren Schlenderschritt |110| , gingen sie in den Sitzungsraum. Der große Tisch mit den darauf verteilten Diskussionsunterlagen und den rundherum stehenden
hochlehnigen Stühlen sah aus wie eine Bühnendekoration. Nur die Schauspieler waren noch nicht erschienen.
»Ich komme direkt aus der Schule«, sagte Rainer. »Wir hatten Elternsprechtag. Anschließend haben wir uns noch im Lehrerzimmer
festgeredet. Du kannst dir wohl denken, worüber.«
»Im Augenblick nicht.«
»Es ging um den Kollegen Karbe und wie lange man ihn beurlauben sollte.«
»Da kann ich nur sagen: möglichst lange. Ich habe ihn heute besucht.«
»Und? Was hast du für einen Eindruck?«
»Er ist völlig fertig. Ich weiß nicht, ob er die Beerdigung durchsteht. Aber man kommt nicht an ihn heran.«
»Das ist noch keinem gelungen.«
Rainer machte eine Pause, als überlegte er. Als er weitersprach, klang seine Stimme zugleich gedämpfter und dringlicher.
»Wir haben heute von vielen Eltern mehr oder minder deutlich zu hören bekommen, dass sie ihn nicht mehr als Lehrer akzeptieren
wollen. Man kann ihm nur raten, seine Versetzung zu beantragen und wegzuziehen.«
»Das könnt ihr euch doch nicht zu eigen machen. Der Mann hat seine Frau und sein Kind verloren. Jetzt kann man ihn nicht auch
noch aus seinem Haus und seinem Beruf vertreiben!«
|111| Rainer zuckte die Achseln, wie um anzudeuten, dass der Fall für ihn schwierig und zweideutig sei. »Lass uns nachher noch darüber
reden«, sagte er.
»Ja gut. Ich hoffe, es dauert heute nicht wieder so lange.«
»Da sehe ich aber schwarz. Der ganze Ort ist in Aufregung. Die Leute wollen hören, wie du das ganze Unglück siehst.«
»Ja, wie sehe ich es? Ich weiß es nicht.«
»Überleg dir was.«
»Was soll ich mir denn überlegen? Die Sache ist völlig ungeklärt.«
»Das sehen die meisten aber anders.«
»Wahrscheinlich. Vor allem nach dem Bericht, der heute in der Zeitung stand. Das war eine unverantwortliche Stimmungsmache.
Lauter Andeutungen ohne Belege.«
»Man weiß ja noch nicht alles. Aber ich muss dir nachher noch etwas erzählen.«
Es klingelte.
»Da kommen die Herrschaften«, sagte Rainer.
Wenig später saßen sie zu acht am Tisch. Zwei Mitglieder hatten sich entschuldigt, die Anwesenden hatten, als sie kurz nacheinander
allein oder zu zweit hereingekommen waren, sofort begonnen, über den schrecklichen Unfall oder das unaufgeklärte Verbrechen
zu reden. Alle sprachen durcheinander, äußerten Vermutungen, verwiesen auf Widersprüche. Es kam ihm so vor, als versuchten
sie alle, sich der schlimmsten möglichen Version zu nähern. Nur die Frauen zögerten |112| noch. Und sie waren es auch, die ihn fragten, wie er die Sache sehe.
»Ich weiß nicht mehr als Sie alle«, sagte er. »Aber ich habe Herrn Karbe heute besucht und einen zerstörten Menschen vorgefunden.«
»Kein Wunder«, wurde eingewandt. »Aber ein Alibi ist das nicht.«
»Stimmt«, sagte er, »es besagt nur, dass es ihm schlecht geht. Und das ist allerdings kein Wunder.«
»Halten Sie ihn für unschuldig, Herr Pfarrer?«
»Das ist vorläufig nicht die Frage, weil die Untersuchungen laufen. Ich hüte mich nur, schnelle einfache Schlüsse zu ziehen.
Solange wir nichts wissen, ist Karbe für uns ein Mensch, der bei einem Unfall Frau und Kind verloren hat und um den wir uns
kümmern müssen.«
Genau das hatte er schon einmal gesagt. Gestern Morgen im Gespräch mit Eschweiler. Jetzt war es schon sein Standardargument.
Wahrscheinlich musste er es noch häufig sagen in der nächsten Zeit. Immerhin hatte er jetzt seinen
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