Der Himmel ist kein Ort
einer Kindergärtnerin
im Gemeindekindergarten vorliegen. Die junge Frau hat schon einige Berufserfahrung und gute Zeugnisse. Ich schlage vor, dass
wir sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Wer von Ihnen möchte daran teilnehmen?«
Zwei Frauen meldeten sich, und er notierte die Namen. Dann kamen sie auf das Gutachten über die Rostschäden im Glockenstuhl
zu sprechen und auf die schon längere Zeit bekannte Sanierungsbedürftigkeit |116| der Turmbedachung, deren Kosten vermutlich beträchtlich waren. Die Landeskirche hatte inzwischen ein weiteres Gutachten in
Auftrag gegeben, das die Möglichkeit einer vorläufigen Teilsanierung prüfen sollte. Für die Anschaffung einer neuen Bestuhlung
des Gemeindehauses hatten sie einen Sponsor gefunden. Es war der Bauunternehmer, dessen Tochter er am vergangenen Wochenende
getraut hatte. Der Mann hatte auch die neuen Gesangbücher gestiftet. Konnte man ihn nun ins Presbyterium wählen, wurde gefragt.
»Das habe ich schon überlegt«, sagte er. »Aber der Mann hat zu viel zu tun. Er ist ja auch politisch engagiert. Und soviel
ich weiß, sitzt er auch im Vorstand einer Bank.«
»Das spricht doch nicht gegen ihn«, sagte Wilfried Otten.
»Nein, keineswegs. Er ist nur ziemlich beschäftigt. Ich werde ihn aber noch einmal darauf ansprechen.«
»Erst muss dieser fragwürdige Unfall geklärt sein«, sagte Otten.
»Das hat nun wirklich nichts miteinander zu tun.«
»Das sehe ich etwas anders«, sagte Otten.
»Na gut. Das müssen wir aber jetzt nicht vertiefen«, sagte er und wandte sich der gegenübersitzenden Frau zu.
»Frau Becker, würden Sie uns bitte Ihren Bericht über das diesjährige Seniorenfest geben?«
»Gerne«, sagte Frau Becker.
»Unser traditionelles Seniorenfest«, begann sie, |117| »hat in diesem Jahr besonders viel Zuspruch gefunden. Ebenso das damit verbundene Jubiläumstreffen zur ›Goldenen Konfirmation‹,
zu dem viele auswärtige Gäste gekommen sind, vor allem einige alte Damen, die sich zum Teil seit 50 Jahren nicht gesehen hatten,
aber sofort miteinander ins Gespräch kamen. Die Vorbereitung dieses Wochenendes war nicht einfach. Das fing an mit dem Auffinden
der Adressen, dem Verschicken der Einladungen, den Rückfragen, die beantwortet werden mussten, und der Bereitstellung von
billigen oder kostenlosen Quartieren durch die Gemeindemitglieder. Dankenswerterweise haben sich wieder viele zur Verfügung
gestellt.«
Sie redete weiter, eine beflissene, wenig ausdrucksvolle Stimme, die ihm im Augenblick einen Schutz bot, hinter dem er sich
sammeln konnte. Ohne Unterbrechung redete sie über die gemeinsamen Mahlzeiten, den Busausflug in die Umgebung und das abendliche
Gartenfest mit Musik und kabarettistischer Unterhaltung. Zwei Comedians hatten Faxen gemacht und prompt belachte dumme Witze
erzählt. Einen hatte er behalten, der ihm besonders geschmacklos und unpassend für ein Gemeindefest mit älteren Leuten erschienen
war. Einer der beiden hatte den anderen gefragt: »Was steht auf dem Grabstein der Putzfrau?« Und der andere hatte mit treuherziger
Miene geantwortet: »Sie kehrt nicht wieder.« Das hatte berstendes Gelächter ausgelöst.
Das Seniorenfest war eine Erfindung seines Vorgängers und ein anhaltender Erfolg. Von der Jugendarbeit, um die er sich bemüht
hatte, konnte man das |118| leider nicht sagen. Niemand kam mehr. Die Jugendlichen zogen es vor, in die Stadt zu fahren. In der Kirche waren sie auch
nicht zu sehen. Dagegen sah man immer wieder im Fernsehen Massenaufläufe von Jugendlichen bei kirchlichen Großveranstaltungen.
Beim Anblick dieser tanzenden, jubelnden Massen empfand er immer, dass ihm diese Generation völlig fremd war. Fremder noch
als die Gäste vom Seniorenfest. Fremder als Karbe? Ja, auch fremder als Karbe. Wir leben alle in einer Welt der Widersprüche,
hatte er sich immer wieder gesagt und nach praktischen Antworten gesucht, improvisierten, vorläufigen Antworten, kleinen Gewissheiten
im Ungewissen, wie jetzt im Fall Karbe.
Nun betraten sie schon wieder ein Minenfeld, das für ihn persönlich problematisch war. Im letzten Vierteljahr hatte ihnen
das Amtsgericht vier Kirchenaustritte gemeldet, genauso viel wie im ganzen vergangenen Jahr. Noch war es möglich, dass diese
plötzliche Häufung der Austritte ein Zufall war. Doch wenn es so weiterging, war es der Beginn von etwas Unabsehbarem, dem
er nicht zu begegnen wusste. Es war nichts Greifbares. Es waren
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