Der Himmel ist kein Ort
unauffällig herangereifte Entscheidungen, die nicht zur Diskussion
standen. Eher verliefen diese Entscheidungen wortlos. Es war ein langsamer unauffälliger Verschleiß alter Gewohnheiten und
Motivationen.
»Was glauben Sie, woran das liegt?«, fragte er.
»Das ist doch klar«, sagte Herbert Drössel mit erstickter Stimme, als stünde er dicht vor einem Hustenanfall. Er war ein früh
in Rente geschickter Filialleiter |119| einer Ladenkette, der Alkoholprobleme gehabt hatte und Kettenraucher war.
Auch jetzt hatte er entgegen der wortlosen Übereinkunft, bei den Sitzungen nicht zu rauchen, sich eine Zigarette angezündet
und, da er am unteren Ende des Tisches saß, den Rauch in eine andere Richtung ausgeatmet und weggewedelt. Er hatte sich wahrscheinlich
in der Runde isoliert gefühlt, denn er meldete sich mit der wütenden Heftigkeit eines Zurückgesetzten zu Wort und zog sofort
alle Blicke auf sich.
»Entschuldigung«, sagte er und hustete salvenartig und schleimig mit rot angelaufenem Gesicht, während er den Handrücken seiner
linken Hand gegen seinen Mund presste und mit der anderen Hand in stochernden Stößen den brennenden Zigarettenrest auf einer
Untertasse ausdrückte.
»Für mich ist das klar«, japste er. »Wenn die Leute Geld brauchen, weil sie ein Haus bauen oder sich scheiden lassen oder
eine Kreuzfahrt machen wollen, dann überlegen sie, wo sie es hernehmen sollen. Sie stellen ’ne Kosten-Nutzen-Rechnung auf.«
»Und dann fällt ihnen die Kirchensteuer ein? Da lässt sich aber nicht besonders viel holen.«
»Kleinvieh macht auch Mist!«
Drössel lachte und blickte sich um, in der Erwartung, dass jemand mitlachte, und musste wieder husten.
»Entschuldigung«, keuchte er, noch gekrümmt und nach Luft ringend. Dann sagte er: »Früher haben sich die Leute gefragt: Wer
weiß, wofür es gut ist. Heute fragen sie: Was bekomme ich dafür?«
|120| »Dann muss man den Leuten eben erklären, dass die Kirche keine Versicherungsgesellschaft ist und die Kirchensteuer keine Anzahlung
auf das Himmelreich.«
Er hatte das schroff gesagt, um die Szene zu beenden, aber Drössel verteidigte sich mit jener Zähigkeit und Rechthaberei,
die häufig aus der Schwäche stammt.
»Weiß ich doch! Weiß ich doch!«, sagte er mit seiner verschleimten Stimme. »Die meisten glauben das aber immer noch. Und davon
lebt die Kirche.«
Er schaute in die Runde, wo er auf allen Gesichtern eisige Ablehnung sah.
»Ist doch wahr!«, stieß er hervor und suchte in seiner Jackentasche nach der Zigarettenpackung und dem Feuerzeug, wagte aber
nicht, sich eine neue Zigarette anzuzünden.
Das war der richtige Augenblick, den nächsten Punkt aufzurufen: den Kassenbericht. Anschließend redeten sie über die neue
Bestuhlung für das Gemeindehaus und beschlossen, noch ein weiteres Angebot einzuholen. Es folgte die Zuwahl eines neuen Mitglieds,
wiederum einer Frau. Drössel enthielt sich als Einziger der Stimme. Die Zugewählte war Sozialarbeiterin und sollte sich vor
allem um die Jugendarbeit kümmern. Im Vorgespräch hatte sie die Einrichtung einer Sprechstunde für Jugendliche vorgeschlagen.
Alle fanden, das sei eine gute Idee. Auch er betonte das noch einmal in seinem Schlusswort. Man musste eben immer wieder etwas
Neues versuchen. »Gut«, sagte er. »Hat noch jemand eine Wortmeldung?« Er |121| blickte fragend in die Runde, wo niemand sich rührte. Dann dankte er allen und beendete die Sitzung. Alle gingen gleichzeitig,
außer Rainer, der sich beiseite hielt.
»Ich helfe dir noch aufzuräumen«, sagte er.
Sie trugen die Gläser und die leeren Flaschen in die Küche, leerten die Untertasse, die Drössel als Aschenbecher benutzt hatte,
und wischten den Tisch ab.
»Ich fand es heute ziemlich stressig«, sagte Rainer.
»War’s auch«, stimmte er zu. »Nicht nur wegen Ottens Andeutungen über die seltsamen Machenschaften von Karbes Schwiegereltern.«
»Da hast du dich ja ziemlich weit aus dem Fenster gehängt.«
»Findest du?«
»Ja, aber ich fand es okay.«
»Es war insgesamt eine gereizte Stimmung. Warum hat Drössel sich so aufgespielt? Er hatte ja leider gar nicht so unrecht.
Aber er ist sehr schlecht damit angekommen.«
»Er hat uns alle kränken wollen. Vielleicht hat er sich auch selbst etwas klargemacht. Manche Leute können das besser, wenn
sie auf einen anderen einreden.«
»Das stimmt.«
»Der Mann ist vor einem Jahr Witwer geworden. Die Frau hatte Krebs, und er raucht
Weitere Kostenlose Bücher