Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
Vom Netzwerk:
und trinkt sich zu Tode. Aus irgendeinem
     Grund hat er Wut auf die Kirche, so als habe sie ihn enttäuscht. Vielleicht hat er auf ein Wunder gewartet. Das tun ja fast
     alle, wenn es so weit ist.«
    |122| »Hast du mit ihm geredet?«
    »Nein, dazu gibt er mir keine Gelegenheit. Ich bin für ihn ein junger Spund.«
    »Ich verstehe übrigens sehr gut die Haltung, die du gegenüber Karbe einnimmst. Ich muss dir aber noch etwas dazu erzählen.«
    »Ja, gut. Wollen wir einen Spaziergang machen? Oder musst du gleich nach Hause?«
    »Für Angelika bin ich noch bei unserer Sitzung«, lächelte Rainer.
    »Ach, hör an! Wofür soll die Kirche sonst noch da sein?«
    »Traditionellerweise für alles.«
     
    Draußen empfing sie ein sanfter Nachtwind, der etliche Grade kühler war als die Luft im Sitzungszimmer und sie erfrischte.
     Es war eine wolkenlose, ungewöhnlich klare Nacht, und der Himmel war übersät mit Sternen, von denen einige wie ferne Blinkfeuer
     ihre Lichtaura in winzigen Schwankungen vergrößerten und verkleinerten, wenn man seine Augen zusammenkniff, um sie schärfer
     wahrzunehmen. In der Tiefe der Dunkelheit und über die ganze Breite des Himmelsausschnittes, der hier im Ort noch von Dachfirsten
     und Baumkronen zerschnitten wurde, dehnte sich als ein weißlicher Schleier das Lichtgesprühe der Milchstraße aus. Es wirkte
     körperlos und unermesslich in seiner wie hingewehten Zufallsgestalt, an der sich nichts veränderte, obwohl alles in vielfacher
     rasender Bewegung war. Davor oder dahinter oder mittendrin standen die helleren Fixsterne, deren Anblick Halt |123| bot, weil die Menschen sie zu Sternbildern zusammengedacht hatten, die sie wiedererkennen konnten und an denen sie sich orientierten.
     Auch Rainer hatte den großen und den kleinen Wagen, die Zwillinge und den Krebs erkannt. Aber er war nicht darauf eingegangen.
    Als sie aus dem Ort heraus waren, blieben sie stehen, um das ausgebreitete Lichtmeer des Nachthimmels zu betrachten. Doch
     die Augen waren überfordert, und es war nicht lange auszuhalten. Im Weitergehen sagte er: »Wenn ich mich noch einmal entscheiden
     könnte, würde ich Astronomie studieren.«
    »Anstelle von Theologie?«
    »Ich weiß nicht, ob anstelle. Aber die Theologie müsste sich ganz neue Fragen stellen. Was mich immer noch umwirft, ist die
     Vorstellung, dass das ganze Weltall eine ungeheure Explosion ist und immer noch weiter auseinanderfliegt. Neulich habe ich
     gelesen, dass die Grenzen des sichtbaren Universums nur Zeitgrenzen sind. Wir schauen inzwischen mit unseren Riesenteleskopen
     in die Zeit vor dem Urknall hinein, als es noch keine Sterne gab.«
    »Aber Gott ist da nicht zu entdecken.«
    »Nicht der persönliche Gott unserer Glaubensgeschichte.«
    »Wer oder was denn? Das Nichts?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Rainer: »Ich glaube, du suchst nach einem neuen Grund, fromm
     zu werden.«
    »Möglich. Aber Gott, der den Urknall gezündet |124| hat, um schließlich uns entstehen zu lassen, unsere Predigten und Gesangbücher und Presbyteriumssitzungen, das kann es ja
     wohl nicht sein.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du ein Mystiker bist.«
    »Ich weiß nicht, was ich bin. Heute habe ich einen Brief von einer Frau bekommen, die mir schreibt, ich sei jemand, der auf
     der Suche ist.«
    »Na, siehst du! Wonach suchst du denn, ihrer Meinung nach?«
    Er zuckte die Achseln: »Nach Glück, nach dem Sinn, nach der Wahrheit, nach mir selbst.«
    »Darunter tust du es ja auch nicht.«
    »Wahrscheinlich bekommt man es nur im Paket. Genauso wie das Unglück.«
    »Wie soll man das nennen? Die übliche Mogelpackung?«
    »Du machst wieder deine grenzwertigen Witze.«
    »Ich hab’s aber ernst gemeint.«
    »Manchmal musst du es dranschreiben.«
    Beiderseits des Weges erstreckten sich jetzt die dunkelgrauen Flächen der Viehweiden, und hinter dem nächsten Elektrozaun
     ruhte eine Herde wiederkäuender junger Rinder, aus der die beiden nächsten Tiere schwerfällig aufsprangen, als sie an den
     Zaun herantraten.
    »Ruhig, ruhig«, sagte Rainer mit gedämpfter Stimme.
    Die Jungtiere standen mit gesenkten Köpfen da und glotzten sie an, während die übrige Herde als eine undeutliche Ansammlung
     großer, schwerer Körper am Boden lag und ruhig weiterkaute. Etwas |125| schwirrte um ihre Köpfe, vielleicht Fledermäuse, die nach Insekten jagten.
    Sie traten vorsichtig zurück, um die Rinder, vielleicht waren es auch junge

Weitere Kostenlose Bücher