Der Himmel ist kein Ort
sagte Rainer.
»Und – nicht zu vergessen – der Elternmund.«
»Was hast du dem Jungen geantwortet?«
»Ich habe es leider künstlich schwierig gemacht. Ich habe gesagt, das ›Wenn‹, das er gesagt habe, sei ausschlaggebend. Denn
ihm entspreche logischerweise ein ›Wenn-nicht‹. Es handele sich also um eine alternative Situation, die offen nach beiden
Seiten sei. Und da begännen eben die Schwierigkeiten. Offenbar hat das keiner verstanden. Und ich musste noch einmal von vorne
beginnen. Zum Mitschreiben sozusagen.«
|168| »Das kannst du ins pädagogische Lehrbuch aufnehmen«, sagte Angelika.
»Unter Umwegdenken für Fortgeschrittene«, sagte Rainer. »Im Grunde ist ›Im Zweifel für den Angeklagten‹ ein glasklarer Grundsatz,
der sich eigentlich von selbst versteht.«
»Ja. Aber der hat nichts mehr mit unseren Aggressionen zu tun und unserer Verstrickbarkeit. Dagegen steht nur das Konzept
der Nächstenliebe, vielleicht gerade deshalb, weil es weltfern ist. Ich meine damit nicht, es sei grundsätzlich abwegig. Es
ist die objektive Lebensgestalt einer immer nur in Ansätzen verwirklichten, perspektivischen Welt.«
»Das hast du schön gesagt«, hörte er Angelikas Stimme neben sich. Es klang nicht nach Ironie, und er hätte ihr gerne zugelächelt.
Aber das erschien ihm im Augenblick ein bisschen zu intim.
»Den Gedanken kann ich leider nicht für mich reklamieren«, sagte er. »Der ist fundamental.«
»Oder ein Allgemeinplatz«, sagte Rainer.
»Ja, du hast recht. Es bleibt ein Allgemeinplatz, solange er nicht persönlich verwirklicht ist.«
»Da dreht sich jetzt aber etwas im Kreise.«
»Merk ich auch gerade. Man kommt eben nicht darüber hinaus.«
»Aber du hast recht, dass man es immer wieder versuchen muss«, sagte Angelika.
»Danke«, sagte er.
Er trank ihr zu.
Mit Claudia hatte er nicht so reden können. Sie mochte das nicht. Oder immer weniger. Es war eines |169| der Anzeichen ihres schwindenden Interesses. Er hatte absurd darauf reagiert, indem er immer ausführlicher auf sie eingeredet
hatte. Das war damals noch ein Reflex seiner kindlichen Erwartung, dass die Welt so sein sollte, wie es für alle Menschen
gut und richtig war. Im Brief von Luiza Suarez hatten sich ganz andere Türen geöffnet. Vom ersten Augenblick an hatte sie
nur ihn im Sinn gehabt, ihn und sich selbst. Darüber konnte er mit seinen Freunden nicht sprechen. Nicht nur weil die Frau
so viel älter war als er. Sie war in jeder Hinsicht außerhalb aller Erwartungen, auch für ihn.
Einen Augenblick war er in Gedanken weggedriftet und musste sich zur Ordnung rufen, denn Rainer hatte seinen Begriff der Verstrickung
aufgenommen und gesagt, dass es ein typisches Wort für moderne Strafverteidiger sei. Es handele immer von den sogenannten
mildernden Umständen und sei ein beliebtes Schlupfloch bei Entscheidungsängsten.
»Stimmt«, sagte er.
Dass es wirklich so pauschal stimmte, bezweifelte er. Aber er hatte das Gefühl, dass es gut sei, Rainer wieder einmal recht
zu geben.
»Und wie hast du dich im Interview positioniert?«
»In Warteposition. Im Zweifel für den Angeklagten.«
»Obwohl Karbe ein echter Kotzbrocken ist«, sagte Rainer. »Aber du hast ihn ja vorher nicht erlebt.«
»Nein, das nicht. Ich seh ihn nachträglich als Opfer eines unbewiesenen Verdachts.«
»Da gibt es einiges mehr zu sagen.«
|170| »Ich weiß. Wie war es denn an dem Abend, als Karbe seine Frau bei euch abgeholt hat?«, fragte er.
»Sie war einfach wie ein gejagtes Tier«, sagte Angelika. »Ich hab versucht, sie festzuhalten, aber Karbe hatte eben das Kind
im Wagen. Das war sein Pfand. Dem konnte sie sich nicht widersetzen. Außerdem haben wir nicht vorausgesehen, was dann passiert
ist.«
»Es war ja auch nicht voraussehbar.«
»Inzwischen bin ich etwas anderer Meinung«, sagte Rainer.
Er widersprach nicht. Schon deshalb nicht, weil er es leid war, sich zu wiederholen. Diese Geschichte war ein Selbstläufer
geworden. Niemand überschaute sie, und niemand hatte sie in der Hand. Aber alle redeten darüber.
»Du hast wirklich großartig gekocht«, sagte er zu Angelika.
»Danke«, sagte sie. »Nicht immer glückt ja alles.«
»Das ist eine gute Definition des Glücks«, lächelte er.
»Auf die heidnische Unbefangenheit«, sagte Rainer und hob sein Glas.
Sie tranken.
Ich muss aufpassen, dachte er. Ich trinke zu viel. Aber er spürte, wie gut ihm das Essen und der Wein taten. Es ist wie eine
innere
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