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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Umriss, viel größer als er erwartet hatte. Wasser aus einer Pfütze schlug dumpf prasselnd
     gegen seine Karosserie. Dann war der Wagen vorbei. Sein Herz klopfte heftig und schnell. Doch er war schon wieder ruhig. Es
     war gut |174| gegangen. Nichts war passiert. Er hatte alles richtig gemacht. Jetzt war er bald zu Hause. Er wollte nur noch seinen Antwortbrief
     an Luiza Suarez in den Kasten stecken, und dann würde er tief und traumlos schlafen.
     
    Als er am nächsten Morgen aufwachte und mit ausgestrecktem Arm den Vorhang beiseitezog, war der Himmel steingrau. Durch das
     gekippte Fenster kam kühle, feuchte Luft herein und erinnerte ihn an seine Fahrt durch den dichten Regen und daran, wie er
     an der Postsäule gehalten hatte, um seinen Brief einzuwerfen. Beides kam ihm jetzt so fern und schemenhaft vor, als hätte
     es nichts mit ihm zu tun. Er fühlte sich leer und unfähig, sich auf den Tag und seine Pflichten einzustellen. Er wollte sie
     sich nicht einmal vor Augen führen.
    Was war los mit ihm? Es war so ein schöner entspannter Abend gewesen gestern. Warum fühlte er sich jetzt so deprimiert? Im
     Grunde hatte das schon angefangen, als er Rainers und Angelikas freundliche Einladung, bei ihnen zu übernachten, ausgeschlagen
     hatte und gegen ihren Einspruch im strömenden Regen nach Hause gefahren war. Die beiden waren ihm plötzlich zu stark gewesen
     – ein glückliches, gut verständigtes Paar, neben dem er sich kümmerlich vorgekommen war. Sie waren so selbstverständlich sie
     selbst. Er hätte ihre Nähe nicht länger ausgehalten, schon gar nicht während der Nacht. Obwohl Angelika den ganzen Abend besonders
     reizend zu ihm gewesen war. Sie war eine anziehende Frau, um die |175| er Rainer nur beneiden konnte. Deshalb hatte es ihn auch schockiert, als Frau Meschnik behauptet hatte, Rainer habe, wie viele
     andere, ein Verhältnis mit Kerstin Karbe gehabt. Warum sollte ein Mann, der eine Frau wie Angelika hatte, so etwas tun? Doch
     in dem Moment, da die Meschnik es in ihrem herablassenden Tonfall erzählte, als wäre es eine Trivialität, die jeder kannte,
     hatte er gewusst, dass es sich so verhielt. Angelika war ihm dadurch noch verehrungswürdiger erschienen. Sie wirkte so in
     sich ruhend, so unverletzt. Das machte ihm deutlich, wie ahnungslos er dem Leben gegenüberstand. Immer wieder spürte er in
     sich ein Bedürfnis nach Ordnung und Harmonie, so oft er sich auch getäuscht hatte. Kannten andere seine Schwäche? Rainer und
     Angelika hatten ihn offenbar eingeladen, weil sie wussten, dass er Zuwendung brauchte oder, wie Rainer es wohl ausgedrückt
     hatte, Ermunterung. Aber sie hatten es ihn nicht spüren lassen. Deshalb hatte er sich auch so wohlgefühlt – im Gespräch, beim
     Essen und Trinken und überhaupt. Er hatte es regelrecht aufgesogen. Nur dass es über Nacht verflogen war wie eine Täuschung.
    Das war nicht neu für ihn. Er kannte solche morgendlichen Stimmungsschwankungen. Er hatte sie sich immer als Kreislaufschwäche
     erklärt, um ihnen nicht mehr Bedeutung beizumessen. Vielleicht stimmte das ja auch. Das bleierne, lähmende Gefühl verschwand
     meistens schnell, wenn er aufstand und unter die Dusche ging, oder spätestens, wenn er seinen Kaffee trank. Doch aufstehen
     musste er eben. Und das erschien ihm manchmal so, als müsste er mit schweren |176| Beinen einen Berg besteigen. Den Berg der alltäglichen Anforderungen seines Amtes: Menschen, die immer nur nahmen und nichts
     zu geben vermochten. Er ließ sie an seinem inneren Blick vorbeipatrouillieren und spürte seine wachsende Abneigung. Nein,
     dachte er, heute kann ich es nicht.
    Am meisten schreckte er vor Karbes Bild zurück und fühlte sich in einem plötzlichen Seitenwechsel einig mit allen, die ihn
     ablehnten. Wenigstens sich selbst durfte er eingestehen, dass er diesen Menschen abstoßend gefunden hatte, schon vom ersten
     Augenblick an, als er ihn gehalten hatte, während das Auto mit den sterbenden Opfern aus dem Wasser gezogen wurde. Der andere
     Körper war irritierend fremd gewesen, eine kompakte, widerständige Masse, der er alles zutraute. Und nun musste er diesen
     Menschen immer noch halten und gegen alle Anfeindungen verteidigen und dabei alle Fragen auf sich ziehen.
    Dauernd fielen ihm neue Einzelheiten der nächtlichen Szene ein, als öffnete sich vor seinen Augen der Innenraum des im Wasser
     versinkenden Wagens und er könnte hineinsehen in den schattenhaften Tumult des Überlebenskampfes seiner

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