Der Himmel ist kein Ort
Sonntagsgottesdienst in Imhoven
Matthäus 7, Vers 1 ›Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet |180| werdet‹ in den Mittelpunkt seiner Predigt gestellt hatte und dabei auf den Fall Karbe und die Reaktionen aus der Gemeinde
zu sprechen gekommen war, hatten in den hinteren Reihen einige Leute die Kirche verlassen. Das hatte sich natürlich herumgesprochen.
Er hatte eine Sondersitzung des Presbyteriums einberufen, die aber wegen mehrerer Absagen nicht zustande gekommen war. Das
Schlimmste war danach passiert. Er erfuhr es morgens durch einen Anruf, während er gerade mit Frau Meschnik die Post besprach.
Sie nahm den Anruf in Empfang, hörte einen Augenblick zu und reichte den Hörer stumm, mit einer Miene, die etwas Ernsthaftes
ankündigte, an ihn weiter: Jemand hatte in der Nacht über Karbes Haustür in großen roten Buchstaben die Inschrift ZUM NASSEN
TOD gesprayt. Als er noch am selben Vormittag hingefahren war, hatte Karbe oder jemand anderes die Buchstaben schon überstrichen,
aber man konnte sie noch schattenhaft ahnen. Trotz seines hartnäckigen Klingelns hatte Karbe nicht geöffnet und war auch
nachher telefonisch nicht erreichbar gewesen.
Frau Meschnik, eigentlich eine unerschütterliche Person, zeigte in diesen Tagen zunehmende Besorgtheit, ohne dass er sich
klar darüber werden konnte, was sie dachte und von ihm erwartete. Vielleicht wusste sie es selbst nicht. Vielleicht erwartete
sie einfach von ihm, dass er die Dinge endlich wieder in den Griff bekam, und sah täglich seine Ratlosigkeit angesichts des
lähmenden Stillstandes, der auch für ihn so aussah, als hätten einflussreiche Akteure im Hintergrund ihm stillschweigend die
Dinge aus der Hand genommen.
|181| Eschweiler, der wie er auf einen Termin für die Bestattung von Kerstin Karbe wartete, hatte die Vermutung geäußert, dass es
sich bei den beiden Strafanträgen wegen vollendeten und versuchten Mordes, die Kerstins Eltern bei der Staatsanwaltschaft
eingereicht hatten, um ein Verzögerungsmanöver handele, mit dem sie verhindern wollten, dass ihre Tochter als Karbes Frau
beerdigt wurde. Denn die Vorstellung, dass sie später einmal zusammen mit Karbe in einem Grab liegen würde, sei für sie der
pure Horror. Sie wollten wohl erreichen, dass Kerstin in ihrer Nähe beerdigt werde. Ebenso das unrettbare Enkelkind, dessen
künstliche Beatmung in absehbarer Zeit beendet werden musste, wozu man allerdings die Einwilligung von Karbe brauchte. Offenbar
hatte Karbe die bisher verweigert.
»Warum bloß?«, hatte er gefragt.
Und Eschweiler hatte echohaft geantwortet: »Ja, warum?«
Dann hatte er hinzugefügt: »Es ist eine Art Stellungskrieg. Karbe hält fest, was er hat. Vielleicht weil er glaubt, es würde
als Eingeständnis seiner Schuld gedeutet, wenn er seine Rechte als Ehemann und Vater aufgäbe.«
»Aber kann es nicht auch die Unerträglichkeit des Verlustes sein?«, hatte er eingewandt.
»Vielleicht auch das«, hatte Eschweiler gesagt. »Es ist eben immer ein dickes Knäuel von Motiven, das sich nicht ganz aufdröseln
lässt. Aber ist der Verlust nicht längst eingetreten?«
Er schien damit anzudeuten, dass es keinen Sinn |182| habe, weiter über solche Subtilitäten nachzudenken. Sie waren in seinen Augen praxisfern und führten nur in Verwirrung. Doch
nach seiner Auffassung enthielt der Fall Ansätze für eine Lösung. Die Eltern von Kerstin Karbe hatten mit ihren Strafanträgen
eine Position aufgebaut, die nicht besonders stark war. Zu einem vorläufigen Aufschub der Bestattung hatten sie wohl gerade
noch gereicht. Doch wenn bei den laufenden Untersuchungen keine neuen belastenden Details gefunden wurden, mussten die Anträge
ihre Triftigkeit verlieren.
Gerüchteweise sei von Kopfverletzungen bei Kerstin Karbe zu hören gewesen. Das passte gut zum Schema eines Unfalls und nötigte
deshalb nicht die viel schwieriger zu beweisende Annahme auf, während der Fahrt zum Baggersee habe ein Gewaltakt stattgefunden,
zum Beispiel um die Frau wehrlos zu machen, bevor das Auto in den See stürzte. Möglicherweise hatte es vorher Anzeichen drohender
Gewalt gegeben, Wutausbrüche und Todesdrohungen, mit denen Karbe die ihm entgleitende Frau einzuschüchtern versucht hatte.
Vielleicht hatten Kerstins Eltern auch Spuren von Verletzungen an ihrer Tochter gesehen. Aber ein so prozesserfahrener Mann
wie Hermann Sievert wusste natürlich, dass seine Position viel hypothetisches Material
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