Der Himmel ist kein Ort
Insassen. Der Junge
hatte auf dem Rücksitz gesessen, hinter seiner Mutter. Und wahrscheinlich war Kerstin Karbe nicht mehr aus dem Auto herausgekommen,
weil sie versucht hatte, zuerst den Jungen zu retten, ihr schreiendes Kind, das auf dem Rücksitz eingesperrt war, bis zur
Brust, bis zum Kinn in dem steigenden Wasser. Sie musste versucht haben, den leeren Fahrersitz umzuklappen, im steigenden
Wasser den Verschluss des Kindergurts |177| zu öffnen und den Jungen über den Sitz nach vorne zu ziehen. Oder war es ganz anders? Hatte sie nicht mehr auf seine Hilferufe
reagiert, weil sie bewusstlos war? Er erinnerte sich jetzt, dass sie bei der Bergung des Wagens leblos in ihren Gurten gehangen
hatte, also wohl mit dem Kopf irgendwo angeschlagen sein musste, als der Wagen plötzlich herumgeschleudert wurde und die Böschung
hinunterbuckelte. Das Wasser war in ihre Lunge eingedrungen, während sie bewusstlos war. Falls sie noch einen Augenblick zu
sich gekommen war, dann in der Panik des Erstickens.
An die Fotos von ihr, die er bei Karbe gesehen hatte, konnte er sich kaum noch erinnern. Sie wirkten gehemmt oder gestellt.
Vielleicht weil Karbes Blick auf ihr gelastet hatte. Immerhin war ihm nachträglich klar geworden, dass er sie einige Male
gesehen hatte: im Supermarkt und auf der Straße mit und ohne den Jungen. Sie war eine eher kleine, unscheinbare Person, die
gestern für ihn plötzlich Leben bekommen hatte durch Angelikas kurze Bemerkung, sie sei wie ein gejagtes Tier gewesen. Ja,
so hatte sie schon ausgesehen, als sie ihm im Supermarkt und auf der Straße begegnet war. Das war es, was ihm an ihr aufgefallen
war. Es hatte sie in plötzlicher Umkehrung ihrer Unscheinbarkeit von der Umgebung abgehoben und ein flüchtiges Interesse in
ihm geweckt. Sie war jemand, der allein war und den man nicht allein lassen durfte, jemand, der Schutz brauchte. Und das war
wahrscheinlich das Signal gewesen, das immer wieder ganz verschiedene Männer auf sie aufmerksam gemacht hatte und der treibende
Grund für Karbes Eifersuchtswahn |178| geworden war. Im Unterschied zu Angelika war sie nicht autonom, sondern allein und ergänzungsbedürftig und, wenn sie nicht
festgehalten wurde, immer wieder auf der Flucht. Nun lag ihr Leichnam in einem Kühlfach der Pathologie oder auf einem Sektionstisch,
wo er zerlegt wurde, um die Spuren ihres Sterbens zu finden. Was konnte er über sie sagen, wenn er beauftragt wurde, eine
Trauerrede zu halten? Was sollte er über ihre Ehe mit Karbe sagen und über ihr Kind? Und über ihre Eltern, denen sie weggelaufen
war und die sie nun mit allen Mitteln heimholen wollten als Tote? Die Fragen glitten unbeantwortet durch seinen Kopf. Er konnte
sie auch nicht festhalten, denn dann zerrannen sie sofort. Erst einmal musste er jetzt aufstehen und den Tag beginnen wie
immer. Gewohnheiten waren noch das Beste in den Wirrnissen des Lebens. Bevor er ins Büro ging, wollte er Angelika und Rainer
anrufen und berichten, dass er gut nach Hause gekommen war, und sich noch einmal für den gemeinsamen Abend bedanken. Wie erwartet
meldete sich nur der Anrufbeantworter. Entweder waren sie schon im Dienst oder frühstückten und wollten nicht gestört werden.
Er sagte seinen Spruch auf mit dem Gefühl, dass er ihnen etwas schuldig blieb, sie ihm aber auch.
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|179| VI
ES WAR WIE EIN SCHWELBRAND, der sich unter der sichtbaren Oberfläche ausbreitete und hier und da in kleinen Feuerstellen zeigte,
die man austreten oder löschen konnte oder die sich nach kurzer Zeit selbst verzehrten, ohne dass die verborgene, großräumig
weiterglimmende Glut damit eingedämmt war. Man lebte mit diesen Anzeichen einer drohenden größeren Gefahr so alltäglich, wie
man mit den Symptomen einer noch nicht ausgebrochenen Krankheit lebt: man registrierte die Veränderungen und machte weiter.
Am Morgen, wenn er ins Büro kam, empfing ihn Frau Meschnik mit neuen Einzelheiten der Unruhe, die in der Gemeinde herrschte.
Manchmal waren das nur kritische Bemerkungen, die jemand gemacht hatte. Aber nach seinem Fernsehinterview, in dem er sich
für die Vorrangigkeit der Unschuldsvermutung ausgesprochen hatte, waren in der Zeitung mehrere Leserbriefe erschienen, die
vor allem die Unwahrscheinlichkeit des Unfalls betonten und wegen der vielen ungeklärten Fragen seinen Standpunkt mehr oder
minder deutlich als abstrakt bezeichneten. Als er daraufhin beim alle 14 Tage anstehenden
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