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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Insassen. Der Junge
     hatte auf dem Rücksitz gesessen, hinter seiner Mutter. Und wahrscheinlich war Kerstin Karbe nicht mehr aus dem Auto herausgekommen,
     weil sie versucht hatte, zuerst den Jungen zu retten, ihr schreiendes Kind, das auf dem Rücksitz eingesperrt war, bis zur
     Brust, bis zum Kinn in dem steigenden Wasser. Sie musste versucht haben, den leeren Fahrersitz umzuklappen, im steigenden
     Wasser den Verschluss des Kindergurts |177| zu öffnen und den Jungen über den Sitz nach vorne zu ziehen. Oder war es ganz anders? Hatte sie nicht mehr auf seine Hilferufe
     reagiert, weil sie bewusstlos war? Er erinnerte sich jetzt, dass sie bei der Bergung des Wagens leblos in ihren Gurten gehangen
     hatte, also wohl mit dem Kopf irgendwo angeschlagen sein musste, als der Wagen plötzlich herumgeschleudert wurde und die Böschung
     hinunterbuckelte. Das Wasser war in ihre Lunge eingedrungen, während sie bewusstlos war. Falls sie noch einen Augenblick zu
     sich gekommen war, dann in der Panik des Erstickens.
    An die Fotos von ihr, die er bei Karbe gesehen hatte, konnte er sich kaum noch erinnern. Sie wirkten gehemmt oder gestellt.
     Vielleicht weil Karbes Blick auf ihr gelastet hatte. Immerhin war ihm nachträglich klar geworden, dass er sie einige Male
     gesehen hatte: im Supermarkt und auf der Straße mit und ohne den Jungen. Sie war eine eher kleine, unscheinbare Person, die
     gestern für ihn plötzlich Leben bekommen hatte durch Angelikas kurze Bemerkung, sie sei wie ein gejagtes Tier gewesen. Ja,
     so hatte sie schon ausgesehen, als sie ihm im Supermarkt und auf der Straße begegnet war. Das war es, was ihm an ihr aufgefallen
     war. Es hatte sie in plötzlicher Umkehrung ihrer Unscheinbarkeit von der Umgebung abgehoben und ein flüchtiges Interesse in
     ihm geweckt. Sie war jemand, der allein war und den man nicht allein lassen durfte, jemand, der Schutz brauchte. Und das war
     wahrscheinlich das Signal gewesen, das immer wieder ganz verschiedene Männer auf sie aufmerksam gemacht hatte und der treibende
     Grund für Karbes Eifersuchtswahn |178| geworden war. Im Unterschied zu Angelika war sie nicht autonom, sondern allein und ergänzungsbedürftig und, wenn sie nicht
     festgehalten wurde, immer wieder auf der Flucht. Nun lag ihr Leichnam in einem Kühlfach der Pathologie oder auf einem Sektionstisch,
     wo er zerlegt wurde, um die Spuren ihres Sterbens zu finden. Was konnte er über sie sagen, wenn er beauftragt wurde, eine
     Trauerrede zu halten? Was sollte er über ihre Ehe mit Karbe sagen und über ihr Kind? Und über ihre Eltern, denen sie weggelaufen
     war und die sie nun mit allen Mitteln heimholen wollten als Tote? Die Fragen glitten unbeantwortet durch seinen Kopf. Er konnte
     sie auch nicht festhalten, denn dann zerrannen sie sofort. Erst einmal musste er jetzt aufstehen und den Tag beginnen wie
     immer. Gewohnheiten waren noch das Beste in den Wirrnissen des Lebens. Bevor er ins Büro ging, wollte er Angelika und Rainer
     anrufen und berichten, dass er gut nach Hause gekommen war, und sich noch einmal für den gemeinsamen Abend bedanken. Wie erwartet
     meldete sich nur der Anrufbeantworter. Entweder waren sie schon im Dienst oder frühstückten und wollten nicht gestört werden.
     Er sagte seinen Spruch auf mit dem Gefühl, dass er ihnen etwas schuldig blieb, sie ihm aber auch.

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|179| VI
    ES WAR WIE EIN SCHWELBRAND, der sich unter der sichtbaren Oberfläche ausbreitete und hier und da in kleinen Feuerstellen zeigte,
     die man austreten oder löschen konnte oder die sich nach kurzer Zeit selbst verzehrten, ohne dass die verborgene, großräumig
     weiterglimmende Glut damit eingedämmt war. Man lebte mit diesen Anzeichen einer drohenden größeren Gefahr so alltäglich, wie
     man mit den Symptomen einer noch nicht ausgebrochenen Krankheit lebt: man registrierte die Veränderungen und machte weiter.
     Am Morgen, wenn er ins Büro kam, empfing ihn Frau Meschnik mit neuen Einzelheiten der Unruhe, die in der Gemeinde herrschte.
     Manchmal waren das nur kritische Bemerkungen, die jemand gemacht hatte. Aber nach seinem Fernsehinterview, in dem er sich
     für die Vorrangigkeit der Unschuldsvermutung ausgesprochen hatte, waren in der Zeitung mehrere Leserbriefe erschienen, die
     vor allem die Unwahrscheinlichkeit des Unfalls betonten und wegen der vielen ungeklärten Fragen seinen Standpunkt mehr oder
     minder deutlich als abstrakt bezeichneten. Als er daraufhin beim alle 14 Tage anstehenden

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