Der Himmel ist kein Ort
das, was wir sein sollen. Vergessen Sie mich, bis wir uns gegenüberstehen.«
Dieses Blatt hatte sie nur mit einem großen L unterschrieben.
Seltsam, wie aufgewühlt und aufwühlend dieser Brief war. So intim und so unbedenklich hatte noch |210| nie eine Frau zu ihm gesprochen. Nur einmal hatten sie sich gesehen, mitten in einer fremden Gesellschaft, nur zweimal waren
sich ihre Blicke begegnet, und schon war er Teil einer vorauseilenden Phantasie, die vermutlich lange vorher begonnen hatte,
als sie aus ihrer Ehe und ihrer Familie geflüchtet war. Sie hatte anscheinend etwas in ihm gesehen, das wie für sie gemacht
schien. Sie hatte seine Einsamkeit erkannt, hatte in den Worten seiner Predigt seine verborgenen Wünsche und Gefühle entdeckt
und sich ihm als Zuflucht angeboten. Das war eine Form von Grenzenlosigkeit, der er sich nicht gewachsen fühlte. Aber sie
schien auch das zu wissen. Sie hatte eigene Ängste und Hemmungen ausgedrückt, um ihm seine Schüchternheit zu nehmen. Ja, sie
musste sehr klug und sehr einfühlsam sein, denn sie schien alles Wesentliche über ihn zu wissen. Sie kannte ihn besser, als
er sich selbst kannte. Während er ihre Briefe gelesen hatte, war ihm an vielen Stellen bewusst geworden, wie begrenzt seine
Erfahrungen mit dem Leben waren. Konnte man überhaupt davon reden?
Was sollte er tun? Er hatte die Frage schon beantwortet, als er sie sich stellte. Er wollte sie kennenlernen, obwohl sie schätzungsweise
zwanzig Jahre älter war als er. Vielleicht sogar mehr. Im Grunde wurde es dadurch sogar leichter. Er hatte, vielleicht auch
in ihren Augen, immer einen Vorbehalt. »Denken Sie nicht, dass Sie nachher an mich gebunden sind«, hatte sie geschrieben.
Das war der entscheidende Satz. Es war eine Begegnung auf Widerruf, vielleicht auch für sie. Selbst wenn sie sich das Gegenteil
wünschte.
|211| Er schob die beiden Briefbögen wieder in den Umschlag. Ihr Rat – oder war es eine Regieanweisung –, sie zu vergessen, bis
sie sich gegenüberstehen würden, war eine irritierende Zweideutigkeit, dazu angetan, die abgewehrten Gedanken immer wieder
wachzurufen. Eine Frau wie sie war ihm noch nie begegnet. Eine ausschweifende Träumerin? Eine Frau in einem Ausnahmezustand?
Scheu und leidenschaftlich zugleich? Er hatte diese irritierende Erinnerung an ihren zweimaligen Blickwechsel mitten unter
fremden Leuten. Das war ein Moment gewesen, der sie beide, so fremd wie sie einander waren, für Sekunden zu einer Einheit
verschmolzen hatte. Und dann waren ihre Briefe gefolgt, lauter Versuche festzuhalten, was in diesem Augenblick geschehen war.
Vorstellen konnte er sie sich nicht.
Vielleicht war es gut, dass ihm zunächst die Tagung in der Akademie bevorstand. Von dort würde er dann zu ihr fahren. Dem
Geheimnis musste man sich schrittweise und auf Umwegen nähern. Vielleicht hatte sie das auch gemeint, als sie ihm geschrieben
hatte, er solle sie bis dahin vergessen.
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|212| VII
ALS ER AM FREITAGMORGEN in sein Auto stieg, um zur Akademietagung und anschließend in den verordneten Urlaub zu fahren, stand
neben Frau Meschnik, die ihm zuwinkte, noch ein wenig abgerückt, der Kollege Frank Rademacher am Straßenrand, der ihn während
seiner Abwesenheit vertreten sollte, und dieses Bild, das schnell hinter ihm verschwand, hinterließ in ihm ein flaues Gefühl
von Ortlosigkeit und Verbannung. Er verließ seinen Alltag und hinterließ eine Reihe ungelöster Probleme, die nun einem anderen
übergeben waren. Man konnte das eine Entlastung nennen, wie Pauly ihm eingeredet hatte. Aber es war auch ein Verlust an Orientierung
und innerem Gewicht.
Er fuhr langsam, ohne innere Eile, um den seltsamen Zwischenzustand noch etwas auszudehnen und sich mit seiner Situation vertraut
zu machen. Ein prickelndes Gefühl von unbestimmter Erwartung erfüllte ihn. Etwas Neues stand ihm bevor, vielleicht eine unabschätzbare
Veränderung.
Als er sich dem Tagungsort näherte und erst recht, als er auf den Parkplatz der Akademie fuhr, auf dem schon viele mittlere
und große Wagen standen, spürte er seine Beklommenheit und blieb noch einen Augenblick |213| in seinem Auto sitzen. Der Teilnehmerliste hatte er entnommen, dass nur wenige Gemeindepfarrer, und zwar ausschließlich jüngere,
sich zu der Tagung angemeldet hatten. Die meisten Teilnehmer waren bekannte Theologen, Soziologen, Historiker, Religionswissenschaftler,
Ethnologen und Psychoanalytiker. Auch
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