Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
Vom Netzwerk:
von lauter fremden, prominenten Leuten umgeben
     war, spürte er wieder, wie einen inneren Schatten, ein Gefühl von Fremdheit und Scheu, das er aus seiner Jugend kannte, aber
     längst für überwunden gehalten hatte. Er durfte nicht zulassen, dass es sich wieder in ihm festsetzte. Er war sich nicht darüber
     im Klaren, wie er sich verhalten sollte. Musste er sich in die Diskussionen einmischen oder war es klüger, zu schweigen und
     alles als ein Schauspiel fremder Eitelkeiten und künstlicher Probleme vor sich ablaufen zu lassen? Leisten konnte er sich
     das. Es würde nicht auffallen, da ihn hier, außer Pauly und Patrik Graefe, niemand kannte.
     
    Pauly kündigte nun als ersten Redner einen Soziologen an. Er bezeichnete ihn als einen ausgewiesenen Fachmann für Gesellschaftsbeschreibungen
     von physiognomischer Plastizität. Sein Thema: »Der gegenwärtige Schwächezustand der Kirche. Eine Diagnose.«
    Der Referent, eine untersetzte Gestalt, ging in einer Art Marschschritt auf das Pult zu und sagte dort, ohne sich schon postiert
     zu haben, mit einer schnell hingeworfenen Vorbemerkung, sein Untertitel habe ursprünglich gelautet: »Zur Diagnose und Therapie«. |220| Glücklicherweise seien ihm aber rettende Bedenken gekommen und er habe das Wort »Therapie« als einen für ihn unerfüllbaren
     Anspruch wieder gestrichen. Er hoffe aber, dass die Tagung mit der Vielfalt ihrer Kompetenzen zu einem konstruktiven Ziel
     gelangen könne. Sein eigener Beitrag sei allerdings nur als ein skizzenhaftes Statement zu verstehen. Damit legte er sein
     Manuskript auf das Pult und beugte sich darüber, als lese er es zum ersten Mal. Vielleicht hatte er sich nur Stichworte gemacht.
    Er führte dann aus, dass die Religion – die beherrschende Sinndeutungsinstanz und lebensgestaltende Macht der traditionalen
     Gesellschaft vor allem des Mittelalters und, im Einklang mit den reformatorischen Impulsen, auch darüber hinaus –, sich im
     Zuge der fortschreitenden Modernisierung allmählich in eine altehrwürdige Hintergrundautorität der Gesellschaft verwandelt
     habe. Dabei habe sie immer mehr praktische Funktionen und Gestaltungsräume abgetreten oder verloren. Zwar lebten im aufgeklärten
     humanen und sozialen Denken christliche Grundgedanken weiter, aber sie seien fast ganz in die Regie und die Verantwortung
     der Zivilgesellschaft übergegangen. Seit es die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit gäbe, seien die Konfessionen
     Konsumgüter geworden, die man wie alle anderen Konsumgüter wählen könne oder nicht. Man könne von ihnen je nach Bedarf seinen
     persönlich dosierten Gebrauch machen. Religion sei Privatsache geworden und verflüchtige sich in subjektiven Varianten oder
     lebe zum Feiertagsritual reduziert wie ein braves und |221| geschütztes Haustier innerhalb der säkularisierten Gesellschaft weiter, die mit ihrer gesammelten Medienmacht anstelle der
     Sorge um das Seelenheil Tag für Tag die Jagd nach dem vielgestaltigen Glück irdischer Selbstverwirklichung propagiere. Das
     aktuelle Wunschbild körperlicher und seelischer Wellness und des gesellschaftlichen Erfolgs habe die religiöse Erlösungshoffnung
     überlagert und als etwas Unüberprüfbares und Vages in den Hintergrund gedrängt. Da sei es kein Wunder, dass nur noch zehn
     Prozent der Bevölkerung mit einiger Regelmäßigkeit in die Kirche gingen.
    Er schilderte das Gemeindeleben mit all seinen sozialen Betreuungsangeboten als eine gesellschaftliche Nische für Zuflucht
     suchende Menschen, die in der Unübersichtlichkeit und Instabilität der Leistungsgesellschaft menschliche Nähe und Wärme vermissten.
     »Die Formelhaftigkeit«, sagte er, »zu der die Glaubensinhalte in ihrer rituellen Vermittlung erstarrt sind, wird dabei von
     den Kirchenbesuchern als Preis der Geborgenheit in Kauf genommen. Weder glauben noch zweifeln sie an den Glaubensverheißungen.
     Die meisten sagen sich: ›Vielleicht ist doch etwas daran. Man kann es ja nicht wissen.‹ Das gilt auch für viele Menschen,
     die nicht mehr in die Kirche gehen. Durch den agnostischen Vorbehalt wollen sie sich die mögliche Teilhabe an den versprochenen
     himmlischen Gütern offenhalten. Glaubensinbrunst und persönliche Zeugenschaft werden ja nicht von ihnen erwartet, nur die
     Zahlung der Kirchensteuer und eine bequeme, kaum belastende Konformität. Oder sogar |222| nur religiöse Toleranz und friedfertige Koexistenz. Für die meisten ist das nicht mehr als der Kauf eines

Weitere Kostenlose Bücher