Der Himmel ist kein Ort
von lauter fremden, prominenten Leuten umgeben
war, spürte er wieder, wie einen inneren Schatten, ein Gefühl von Fremdheit und Scheu, das er aus seiner Jugend kannte, aber
längst für überwunden gehalten hatte. Er durfte nicht zulassen, dass es sich wieder in ihm festsetzte. Er war sich nicht darüber
im Klaren, wie er sich verhalten sollte. Musste er sich in die Diskussionen einmischen oder war es klüger, zu schweigen und
alles als ein Schauspiel fremder Eitelkeiten und künstlicher Probleme vor sich ablaufen zu lassen? Leisten konnte er sich
das. Es würde nicht auffallen, da ihn hier, außer Pauly und Patrik Graefe, niemand kannte.
Pauly kündigte nun als ersten Redner einen Soziologen an. Er bezeichnete ihn als einen ausgewiesenen Fachmann für Gesellschaftsbeschreibungen
von physiognomischer Plastizität. Sein Thema: »Der gegenwärtige Schwächezustand der Kirche. Eine Diagnose.«
Der Referent, eine untersetzte Gestalt, ging in einer Art Marschschritt auf das Pult zu und sagte dort, ohne sich schon postiert
zu haben, mit einer schnell hingeworfenen Vorbemerkung, sein Untertitel habe ursprünglich gelautet: »Zur Diagnose und Therapie«. |220| Glücklicherweise seien ihm aber rettende Bedenken gekommen und er habe das Wort »Therapie« als einen für ihn unerfüllbaren
Anspruch wieder gestrichen. Er hoffe aber, dass die Tagung mit der Vielfalt ihrer Kompetenzen zu einem konstruktiven Ziel
gelangen könne. Sein eigener Beitrag sei allerdings nur als ein skizzenhaftes Statement zu verstehen. Damit legte er sein
Manuskript auf das Pult und beugte sich darüber, als lese er es zum ersten Mal. Vielleicht hatte er sich nur Stichworte gemacht.
Er führte dann aus, dass die Religion – die beherrschende Sinndeutungsinstanz und lebensgestaltende Macht der traditionalen
Gesellschaft vor allem des Mittelalters und, im Einklang mit den reformatorischen Impulsen, auch darüber hinaus –, sich im
Zuge der fortschreitenden Modernisierung allmählich in eine altehrwürdige Hintergrundautorität der Gesellschaft verwandelt
habe. Dabei habe sie immer mehr praktische Funktionen und Gestaltungsräume abgetreten oder verloren. Zwar lebten im aufgeklärten
humanen und sozialen Denken christliche Grundgedanken weiter, aber sie seien fast ganz in die Regie und die Verantwortung
der Zivilgesellschaft übergegangen. Seit es die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit gäbe, seien die Konfessionen
Konsumgüter geworden, die man wie alle anderen Konsumgüter wählen könne oder nicht. Man könne von ihnen je nach Bedarf seinen
persönlich dosierten Gebrauch machen. Religion sei Privatsache geworden und verflüchtige sich in subjektiven Varianten oder
lebe zum Feiertagsritual reduziert wie ein braves und |221| geschütztes Haustier innerhalb der säkularisierten Gesellschaft weiter, die mit ihrer gesammelten Medienmacht anstelle der
Sorge um das Seelenheil Tag für Tag die Jagd nach dem vielgestaltigen Glück irdischer Selbstverwirklichung propagiere. Das
aktuelle Wunschbild körperlicher und seelischer Wellness und des gesellschaftlichen Erfolgs habe die religiöse Erlösungshoffnung
überlagert und als etwas Unüberprüfbares und Vages in den Hintergrund gedrängt. Da sei es kein Wunder, dass nur noch zehn
Prozent der Bevölkerung mit einiger Regelmäßigkeit in die Kirche gingen.
Er schilderte das Gemeindeleben mit all seinen sozialen Betreuungsangeboten als eine gesellschaftliche Nische für Zuflucht
suchende Menschen, die in der Unübersichtlichkeit und Instabilität der Leistungsgesellschaft menschliche Nähe und Wärme vermissten.
»Die Formelhaftigkeit«, sagte er, »zu der die Glaubensinhalte in ihrer rituellen Vermittlung erstarrt sind, wird dabei von
den Kirchenbesuchern als Preis der Geborgenheit in Kauf genommen. Weder glauben noch zweifeln sie an den Glaubensverheißungen.
Die meisten sagen sich: ›Vielleicht ist doch etwas daran. Man kann es ja nicht wissen.‹ Das gilt auch für viele Menschen,
die nicht mehr in die Kirche gehen. Durch den agnostischen Vorbehalt wollen sie sich die mögliche Teilhabe an den versprochenen
himmlischen Gütern offenhalten. Glaubensinbrunst und persönliche Zeugenschaft werden ja nicht von ihnen erwartet, nur die
Zahlung der Kirchensteuer und eine bequeme, kaum belastende Konformität. Oder sogar |222| nur religiöse Toleranz und friedfertige Koexistenz. Für die meisten ist das nicht mehr als der Kauf eines
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