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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sich, vorsichtiger zu sein. Ein plötzliches Bedürfnis nach Übereinstimmung
     hatte ihm diese vieldeutige Andeutung entlockt. Wahrscheinlich ein typischer Anfängerfehler. Glücklicherweise unterbrachen
     ein musikalisches Signal und die anschließende Aufforderung, sich in den Vortragssaal zu begeben, ihr Gespräch. Die Flügeltüren
     waren gerade geöffnet worden und hatten den Blick freigegeben auf mehrere Reihen dunkelgrauer Polsterstühle an langen Tischen,
     auf denen Handmikrofone für die Diskussion und kleine Schreibblocks lagen. Rechts und links vom Rednerpult prangten zwei große
     Blumenarrangements.
    Begleitet vom Stimmengewirr füllten sich die Reihen. Christoph und er setzten sich an einen der Seitentische. Etwas entfernt
     von ihnen eilte Patrik umher und verteilte irgendwelche Papiere in einer – wie Christoph formulierte – »pantomimisch gelungenen
     Darstellung des Begriffs der Geschäftigkeit«. Dass Patrik ihn noch nicht entdeckt oder in seinem Eifer, den wichtigen Leuten
     zu Diensten zu sein, bewusst |217| übersehen hatte, war ihm ganz recht. Er fühlte sich als Außenseiter und mit seinem neuen Bekannten Christoph neben sich sogar
     als Mitglied einer Widerstandszelle gegen die von den meisten Tagungsteilnehmern ausgestrahlte Aura von Kompetenz. Er war
     überzeugt, dass Christoph etwas Ähnliches empfand.
    Jetzt wurden die Flügeltüren geschlossen, und in der ersten Reihe erhob sich Dr. Pauly, um zum Pult zu gehen, wo er sein Manuskript
     entfaltete und glatt strich und dann das Mikrofon auf Mundhöhe zurechtbog, beides rituell wirkende Gesten der Vorbereitung,
     die Ruhe im Saal herstellten. Es folgte die Begrüßung der Ehrengäste und der Referenten, eine lange Liste, die einige Zeit
     in Anspruch nahm und vermutlich sorgfältig abgewogen war nach einer gegenwärtig geltenden Skala der Bedeutsamkeiten. Darüber
     hätte er gerne mit Christoph eine Bemerkung ausgetauscht. Doch der saß unbeweglich neben ihm und starrte auf Pauly. Wie ein
     Raubtier auf seine Beute, schoss es ihm durch den Kopf.
    Pauly war jetzt dazu übergegangen, einige Bemerkungen zum Konzept der Tagung zu machen, die in einem Teil der Presse als eine
     theologische Tagung angekündigt worden sei. Das sei sie aber, wie man der Liste der Referenten und ihren Themenstellungen
     entnehmen könne, gerade nicht. »Was uns vorschwebt und was uns hoffentlich gelingen wird«, schwang sich Paulys Stimme in eine
     höhere Tonlage auf, »das ist der Versuch, die Theologie und die kirchliche Seelsorge im Gespräch mit Philosophen, Soziologen,
     Psychoanalytikern |218| , Religionshistorikern und selbstverständlich auch Naturwissenschaftlern kritischen multiperspektivischen Ansichten ihrer
     selbst auszusetzen. Wir verbinden damit keine bestimmten Absichten, sondern wollen in kurzen Vorträgen und Statements und
     daran anschließenden Diskussionen und ab morgen auch in verschiedenen Arbeitskreisen dieses Gespräch als einen offenen Prozess
     der Begegnung und der Reflexion gestalten, in der zugegebenermaßen kühnen Vorstellung, dass daraus aktualisierende Impulse
     für das Gemeindeleben und ein neues Verständnis für die Rolle der Kirche in der säkularen Gesellschaft hervorgehen werden.
     Ich weiß, das klingt äußerst ehrgeizig und gewagt. Aber ich denke, wir haben das Potenzial dazu. Also sollten wir auch den
     Mut haben.«
    Er machte eine Pause. Dann sagte er: »Jede Infragestellung trägt in sich die Möglichkeit eines neuen Beginns. Das sollte in
     den nächsten Tagen unsere Hypothese und unser Motto sein.«
    Es gab matten Beifall, der bald versiegte. So direkt ließ sich dieses Auditorium, in dem ganz unterschiedliche Leute saßen,
     nicht in eine gemeinsame Stimmung versetzen. »Danke«, sagte Pauly trotzdem. Und er sagte es auch noch ein zweites Mal in einem
     beschwichtigenden Ton, als wollte er aus Bescheidenheit dem schon abgeebbten Beifall noch einmal Einhalt gebieten.
    War Pauly ein Mensch ohne Selbstzweifel? Das glaubte er eigentlich nicht. Wahrscheinlich war er jemand, der seine Selbstzweifel
     durch Routinen überbaut hatte. Vor allem durch ständiges Reden. Pauly |219| musste seine Stimme hören, um sich existent zu fühlen. Bei Menschen wie ihm fügten sich die Worte ganz von selbst zueinander,
     als wüssten sie, wo sie hingehörten. Das war das Gegenteil der plötzlichen Sprechstörung, die ihn befallen hatte und immer
     noch wie ein nur oberflächlich gezähmter Schrecken in ihm steckte. Hier, wo er

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