Der Himmel ist kein Ort
einige bekannte Mitarbeiter großer Zeitungen standen auf der Liste. Keinem dieser Leute
war er bisher begegnet. Patrik Graefe war der Einzige, den er kannte. Aber der fungierte hier als Mitveranstalter in einer
anderen Kategorie. Durch Patrik hatte er die Chance bekommen, sich mit einem eigenen Statement am Programm zu beteiligen,
war aber nicht dazu gekommen, etwas zu formulieren, und fand das auch besser so.
Im Foyer empfing ihn hallender Stimmenschwall. Die Teilnehmer der Tagung waren wohl in der Hauptsache schon eingetroffen und
standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten. Auch mehrere Pastorinnen waren darunter, junge Frauen in seinem Alter, umringt
von älteren Herren. Es wurde gescherzt. Man zeigte Zusammengehörigkeit und wechselseitige Anerkennung. Die meisten Leute kannten
sich wohl von anderen Gelegenheiten oder hatten sich gerade bekannt gemacht. Manche kamen mit Kaffee- oder Teetassen in der
Hand vom Getränkeausschank im Hintergrund des Raumes herüber, um sich zu irgendeiner Gruppe zu stellen, wo man sie sofort
in das laufende Gespräch einbezog. Dazwischen eilte Dr. Pauly umher, begrüßte die Neuankömmlinge und ließ sich hier und da
auf einen kurzen Austausch von Höflichkeiten |214| oder Bonmots ein. Patrik war nirgendwo zu sehen. Vielleicht hatte er besondere Aufgaben, überprüfte die Mikrofone oder die
Leinwand für die Projektionen. Die Türen zum großen Vortragssaal waren noch geschlossen. Dafür sah er nah bei der Garderobe
einen Büchertisch, auf dem wahrscheinlich die einschlägigen Publikationen der Teilnehmer ausgestellt waren. Das war der einzige
Ort, wo er sich hinstellen konnte, ohne verloren zu wirken. Er wurde auch gleich von einem Kollegen seines Alters angesprochen,
der in der gleichen Verlegenheit zu sein schien wie er. Er stellte sich als Christoph Kessler vor und kam aus der Nähe von
Bremen. Über die Bücher, die vor ihnen ausgebreitet lagen, sagte er: »Das ist die geballte Ladung christlicher Selbstinfragestellung.«
Wie war das gemeint? War es nur einer der Witze, die auf solchen Tagungen kursierten? Oder war es eine Testbemerkung auf der
Suche nach Allianzen? Jedenfalls schien der Kollege die meisten Bücher zu kennen. Er selbst hatte auf den ersten Blick neben
Klassikern wie Barth, Bultmann, Bonhoeffer und Tillich auch Patriks schmales Büchlein entdeckt. Er nahm es in die Hand, um
darin zu blättern und in das Inhaltsverzeichnis zu schauen. Ach ja, er erinnerte sich. Es war das Thema der wachsenden Kluft
zwischen der Volksfrömmigkeit und der Theologie. Damit würde man hier zu tun bekommen.
»Ich bin gespannt«, sagte er und legte das Büchlein zurück.
Die Buchhändlerin wartete in freundlicher Neutralität, ob jemand eines der ausgelegten Bücher kaufen |215| würde. Aber natürlich hatten die Teilnehmer an der Tagung sich längst gegenseitig ihre neuesten Publikationen geschickt.
»Worauf bist du gespannt?«, fragte Kessler.
»Was der Stand der Dinge ist.«
»Der Stand der Dinge ist im besten Fall das Chaos.«
»Und im schlimmsten Fall?«
»Das gebügelte Chaos.«
»Also die kultivierten Widersprüche.«
»So kannst du es sagen.«
Das kollegiale Du, mit dem Kessler ihn angesprochen hatte, war genauso wie der flotte ironische Wortwechsel ein Bündnisangebot.
Er wollte es bestätigen, indem er ihn in einem seiner nächsten Sätze auch mit Du ansprach. Aber es fiel ihm kein selbstverständlicher
Satz ein. Schließlich fragte er: »Bist du aus allgemeinem oder einem speziellen Interesse hergekommen?«
»Beides«, sagte Kessler.
Dann spürte offenbar auch er, dass ihr Gespräch zu stocken drohte, und fügte hinzu: »Ich schreibe etwas über Selbstbestimmung
und Religion.«
»Ein lutherisches Thema.«
»Auch. Aber nicht unbedingt. Das müsste eher Glaube und Gnade heißen.«
»Vielleicht bekommst du Anregungen hier.«
»Mit Neuem rechne ich eigentlich nicht. Kennst du den Pauly?«
»Ich hatte vor Kurzem die Gelegenheit, ihn kennenzulernen.«
»Ein großer Harmonisierer.«
|216| »Das kann ich bestätigen. Ich bin sozusagen ein Harmonisierungsopfer.«
»Wieso?«
»Na ja, ich hatte Stress in der Gemeinde und bin vorübergehend beurlaubt worden. Freundlich und fürsorglich natürlich.«
»Das musst du mir erzählen.«
Lieber nicht, dachte er. Das konnte Ärger geben, wenn es sich herumsprach. In dieser Gesellschaft, in der sich die meisten
kannten und sicher auch übereinander redeten, empfahl es
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