Der Himmel ist kein Ort
Lotterieloses in
den unteren Rängen. Man rechnet nicht wirklich mit dem großen, alles verändernden Glückstreffer. Doch so eine kleine Hoffnung
auf einen Gewinn kann man sich schon einmal leisten, um den erheblichen Druck der Konkurrenzgesellschaft ein wenig aufzulockern
und das unvermeidliche Ende des Lebens freundlich zu umkränzen und zu verschleiern. Unbestreitbar ist das immer noch eine
wichtige religiöse Funktion. Man lese nur die Todesanzeigen in der Zeitung. Auch ihnen lässt sich allerdings entnehmen, dass
der verklärende Rückblick auf das irdische Leben der Verstorbenen die Hoffnung auf ein ewiges Leben längst deutlich übertrifft.
Das ist ein bedeutendes Zeichen eines gewaltigen psychologischen und sozialen Wandels, der sich überall bemerkbar macht. Wir
sind dabei, ein neues Verständnis des Todes zu gewinnen. Der Tod, begriffen als das absolute, unüberschreitbare Ende des Lebens,
ist für immer mehr Menschen die sinnstiftende Notwendigkeit für ein selbst gestaltetes Leben geworden. Man könnte das eine
Religion ohne Religion nennen.«
Damit schloss er seine Rede und blickte zu Pauly hinüber, als erwarte er ein Zeichen von ihm, was jetzt noch zu tun blieb.
»Gibt es Wortmeldungen?«, fragte Pauly, der offenbar jede vermittelnde Stellungnahme vermeiden wollte. Im Auditorium regte
sich nichts. Es war ein Augenblick der Lähmung, der gesenkten Gesichter.
Christoph, der neben ihm geflüstert hatte: »Nicht |223| ganz falsch und nicht ganz richtig, aber jedenfalls banal«, hob seinen Arm.
»Bitte!«, sagte Pauly.
Es klang ein wenig flehentlich. Als hätte er gesagt: ›Bitte, machen Sie es gut!‹ Vielleicht kannte er Christoph oder hatte
von ihm gehört. Jedenfalls schien er besorgt zu sein. Christoph hatte jetzt die Aufmerksamkeit des ganzen Saals, als er sagte:
»Als einem kurzen Überblick kann ich Ihrer Diagnose zustimmen. Neu ist sie nicht. Nicht einmal in den Formulierungen. Doch
da Sie gesagt haben, Sie hätten Ihren Therapievorschlag wieder gestrichen, bin ich sehr neugierig geworden, was Sie uns vorenthalten
haben und weshalb? Aber ehe ich spekuliere, erlauben Sie mir bitte eine Frage: Sehnen Sie sich nach dem Gottesstaat?«
Hier und da war ein verlegenes Lachen zu hören, das gleich wieder verstummte. Die meisten empfanden die Frage wohl als eine
plumpe Unverschämtheit.
»Schwerlich«, antwortete der Soziologe. »Es wäre eine zu große Umstellung für mich.«
Jetzt lachte der ganze Saal.
Eine neue Wortmeldung beendete die Szene. Jemand, der kurz seinen Namen und seinen Beruf nannte, also einer der weniger Prominenten,
stellte die Frage, ob in der jüngst zu beobachtenden neuen Offenheit der Jugend für religiöse Gefühle nicht auch ein Ansatz
zu einer Renaissance der Religion stecke.
»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte der Soziologe. »Was ich persönlich bisher wahrgenommen habe, waren an Massenereignisse
gebundene, flüchtige Stimmungen, die sich selbst genug waren und |224| sich selbst konsumierten. Wenn’s vorbei ist, läuft man auseinander, und nichts bleibt zurück außer dem Bedürfnis nach einem
neuen Event und neuen Massenbegeisterungen.«
»Woher wissen Sie das?«, wurde aus einer anderen Ecke des Saals gefragt.
»Im strengen Sinne des Wortes weiß ich das nicht. Es sind Beobachtungen und Eindrücke. Sie sind gut beraten, wenn Sie meinen
Vortrag als den Versuch einer Beschreibung komplexer gesellschaftlicher Veränderungen verstehen und mit eigenen Erfahrungen
vergleichen.«
»Es gibt eben andere Erfahrungen«, meinte der Frager, »und mit Mehrheitseinschätzungen ist ihnen nicht beizukommen.«
»Das habe ich eigentlich auch nicht behaupten wollen. Eher das Gegenteil.«
»Es klang für mich so«, sagte der Frager.
»Danke für die Richtigstellung.«
Eine weitere Frage wurde nicht gestellt, was Pauly zu der Bemerkung veranlasste, dass es für eine grundsätzliche Diskussion
nach dieser Situationsbeschreibung noch zu früh sei. Zunächst müssten noch mehr Aspekte und Probleme zusammengetragen werden.
Jetzt zum Beispiel sei laut Programm ein besonders weiter Sprung vorgesehen. Man werde einen Blick tun in die Anfänge des
religiösen Denkens, des Gottesglaubens und des Christentums, um von da aus zu den Problemen der Gegenwart zurückzukehren.
Der nächste Vortragende wurde von Pauly als ein philosophisch, theologisch und kulturhistorisch umfassend |225| gebildeter Generalist angekündigt, der auch Autor
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