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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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zahlreicher Bücher sei. Pauly bat ihn aufs Podium mit dem Satz: »Bitte,
     Herr Sovic, beantworten Sie uns die im Titel Ihres letzten Buches gestellte Frage ›Wer oder was ist Gott?‹«
    Sovic war ein großer, hagerer Mann, der das Mikro wieder höher einstellen musste und noch einen Schluck aus dem bereitgestellten
     Wasserglas trank, bevor er zu reden begann. Er sagte: »Ich will die Frage gleich beantworten: ›Gott ist die Summe der Erzählungen
     über Gott.‹ Man kann auch sagen: eine von Menschen geschaffene, Halt und Orientierung stiftende Fiktion. Das ist ein hoch
     abstraktes, anspruchsvolles Geistesprodukt, das zu seiner Entstehung ein entwickeltes menschliches Großhirn voraussetzt, also
     ein sehr spätes Produkt der biologischen Evolution. Ein Fisch, ein Krake, ein Vogel, eine Eidechse, ein Löwe oder ein Schimpanse
     können sich keine Vorstellung von einem Gott machen. Ihre Wahrnehmung der Welt ist festgelegt auf die ihrer Lebensweise zugehörigen
     Signale und kennt keine Außensicht, keinen abstrakten Überblick über die Gesamtheit des Seins und kann sich nicht die metaphysische
     Grundfrage stellen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Der Gottesbegriff ist die personifizierte menschliche
     Antwort auf die Seinsfrage. Doch der Satz der biblischen Schöpfungsgeschichte ›Gott schuf den Menschen sich selbst zum Bilde‹
     steht schroff und steil, ohne Anlehnung an bekannte Fakten für sich da. Man kann ihn nur glauben oder nicht. Wenn wir dagegen
     die Beziehung der beiden tragenden Worte umkehren |226| zu dem Satz ›Der Mensch schuf Gott sich selbst zum Bilde‹, dann wird die Aussage anschlussfähig an alle evolutionsgeschichtlichen
     und kulturgeschichtlichen Faktenzusammenhänge. Der Mensch ist nicht aus einem Schöpfungsakt hervorgegangen, sondern ist als
     das bisherige Endprodukt der schon über zwei Milliarden Jahre andauernden Evolution des Lebens vor etwa zweieinhalb Millionen
     Jahren in Erscheinung getreten. Noch affenähnlich, doch schon abweichend in einigen Merkmalen, unterschied er sich von der
     eindeutigen Spezialisierung der erfolgreich an ihre Umwelt angepassten Tierarten. Er war unfertig und veränderungsfähig, ein
     Bündel verborgener Möglichkeiten. Ein problematischer, weitreichender Wurf, von dem sich nicht sagen lässt, wohin er noch
     führen wird.«
    Sovic machte eine Pause und holte dann zu einem Bekenntnis aus: »Die Entstehung eines gestaltenreichen Lebens auf dem kosmisch
     gesehen winzigen Planeten Erde ist ein Geschehen von hochgradiger Phantastik. Keineswegs ist es durch seine wissenschaftliche
     Beschreibung entzaubert worden. Im Gegenteil: Die Evolution des Lebens aus anorganischen Anfängen bis zu der heutigen leider
     wieder gefährdeten Artenvielfalt ist in meinen Augen die größte Erzählung, die die Menschheit hervorgebracht hat. Und sie
     hat zum Überfluss, möchte man sagen, eine selbstreflektive Pointe bekommen, indem sie ein Lebewesen hervorgebracht hat, in
     dessen wachsendem Gehirn sich die ungeheueren Vorgänge in Form von mythischen Geschichten und Kunstwerken, von Religionen,
     Philosophien |227| und eben auch in wissenschaftlichen Theorien spiegeln. Es ist ein Lebewesen, das sich von allen anderen Lebewesen unterscheidet,
     weil es nicht einfach nur lebt und stirbt, sondern sich fragt, wo bin ich hier und wozu bin ich hier und wo komme ich her?«
    »Er bläst es ziemlich auf«, flüsterte Christoph neben ihm.
    Er nickte kurz und blickte weiter zum Vortragspult hinüber.
    »Womit konkurriert er?«, begann Christoph wieder. »Mit der Genesis?«
    Er nickte und blickte starr geradeaus. Es war ihm unangenehm, in ein störendes Geflüster einbezogen zu werden. Christoph konnte
     seine Einfälle nicht für sich behalten. Vielleicht wollte er die Abfuhr kompensieren, die er für seine unpassende Wortmeldung
     bekommen hatte. Wahrscheinlich war Christoph ein Mensch, der stets in Opposition zum Etablierten stand und in ihm einen Gesinnungspartner
     suchte. Wie immer in solchen Situationen spürte er ein Bedürfnis nach Distanz. War er vielleicht nicht bündnisfähig? Manchmal
     hatte er das gedacht. Aber inzwischen war ihm klar, dass es sich anders verhielt. Er war allseitig bündnisbereit, weil er
     im Grunde indifferent war. Das durchschaute offenbar niemand. Da er sich selbst immer wieder zwang, gegen seine Bedürfnisse
     nach Rückzug und Distanz den moralischen Anforderungen seines Amtes zu genügen, galt er den meisten als

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