Der Himmel ist kein Ort
ein uneigennütziger,
kooperativer Mensch. Nur Karbe hatte das bei ihrer letzten Begegnung anders empfunden und war von sich aus |228| auf Distanz gegangen, so radikal und verletzend, dass es unverständlich war. Doch er war nicht verletzt gewesen, nur verblüfft
und ein wenig leer. Es war ihm leichtgefallen, ihm den Rücken zuzukehren und hierher zu fahren, zu dieser seltsamen Tagung
zur Standortbestimmung der Religion. Im Gegensatz zu Christophs gespannter Diskussionsbereitschaft spürte er keine Neigung,
sich zu äußern. Er fühlte sich als fremder Gast.
Wie von ferne hörte er die Stimme des Vortragenden. Er sprach über den Übergang des magischen Zeitalters und seiner Dämonenfurcht
zum menschennäheren mythischen Zeitalter der Vielgötterei, um dann in rascher historischer Kulissenverschiebung zur monotheistischen
Religion zu gelangen, die für den allmächtigen und alleinigen Weltenschöpfer und Weltenherrscher das uneingeschränkte Monopol
der Sinnstiftung beanspruchte. Jahwe, der Gott, erschien als der grundsätzlich Andere und Unvergleichbare. Es war verboten,
sich ein Bild von ihm zu machen, denn das hätte ihn zu nahe an die bunte Vielfalt der Natur und Lokalgötter herangerückt.
Sie alle mussten dem Absolutheitsanspruch des einen Gottes weichen, als um 1200 vor Christus jüdische Hirtenstämme aus Ägypten
kommend in ihr Herkunftsland Kanaan zurückwanderten und sich als Gottes auserwähltes Volk westlich des Jordans niederließen.
»Im Alten Testament«, sagte Sovic, »begegnet uns Gott zwar in übermenschlicher Größe und Macht, aber durchaus analog zu den
damaligen menschlichen Lebensformen als Herrscher, Stammesoberhaupt |229| , Richter oder Vater. Und er zeigt sich als ein Wesen von archaischer Emotionalität: zornig, strafend, Opfer und Unterwerfung
fordernd und den Andersdenkenden und Feinden – und manchmal allen Menschen – Vernichtung androhend. In all diesen Erzählungen
von Gott, die bis heute wie unbewegliche Felsbrocken im Bewusstsein der Menschen liegen, drückt sich das menschliche Verlangen
nach einem mächtigen Schutzherrn aus«, sagte Sovic. »Der alte Gott, dessen strenge, auf Gesetzen und Strafen gründende Weltordnung
in der Bergpredigt durch die Botschaft eines umfassenden liebenden Verstehens überwunden schien, blieb unerschütterlich und
schwieg, als der am Kreuz sterbende Jesus nach ihm rief. Vielleicht war die christliche Botschaft für viele Menschen zu unbestimmt
und gewagt und bedurfte der Stützung durch alte und härtere Garantien. Also wurden der gekreuzigte Christus und der das Sühneopfer
fordernde alte Gott wieder miteinander verbunden. Für jemanden, der die Liebesbotschaft der Bergpredigt als einen neuen evolutionären
Schritt im menschlichen Selbstverständnis begreift, ist es schockierend, dass sich Christus im Glaubensbekenntnis als Beisitzer
beim Jüngsten Gericht wiederfindet. Denn dieses Strafgericht über ›die Lebenden und die Toten‹ ist der Inbegriff des archaischen
Denkens, das er überwinden wollte.«
War das der Schluss des Vortrages? Niemand klatschte, niemand reagierte. Sovic hatte mit wachsender Emphase gesprochen und
plötzlich aufgehört. Er stand reglos hinter dem Pult und blickte in den |230| Saal, wo sich Widerspruch zusammenballte. Es war eine spürbare Anspannung, der nur noch ein zündendes Stichwort fehlte, um
auszubrechen. Man sah sie in vielen Gesichtern und hörte sie im allgemeinen Schweigen. Auch Pauly schaute mit gesenktem Kopf
vor sich hin, als denke er nach und versuche sich klarzumachen, was er da gerade gehört hatte. Offenbar hatte er den Text
des Vortrags nicht gekannt, und nun war der Stein ins Wasser gefallen. Es lag jetzt an ihm, das Gespräch wieder in allgemein
akzeptierbare Bahnen zu lenken.
Aber der Vortragende war noch nicht am Ende.
Er sagte: »Man kann eine Ironie der Religionsgeschichte darin sehen, dass der monotheistische Gott, der keine anderen Götter
neben sich dulden wollte, in Jesus einen Beisitzer bekam, der ein ganz anderes, sensibleres Programm vertrat als die alte,
mit grausamen Strafen und Gehorsamsprüfungen sich präsentierende göttliche Herrschergestalt. Um diesen Widerspruch zu überbrücken,
musste der Mensch Jesus erst durch das Nadelöhr seines Todes gehen, um so imaginär zu werden, dass er in den göttlichen Rang
erhoben werden konnte. Aber war er nun noch derselbe?
Es war zweifellos eine strategische Leistung der Apostel
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